
Das Land der Hinkenden - diese Fabel ist 250 Jahre alt - und aktueller denn je
Vorzeiten gab's ein kleines Land,
Worin man keinen Menschen fand,
Der nicht gestottert, wenn er red'te,
Nicht, wenn er ging, gehinkt hätte;
Denn beides hielt man für galant.
Ein Fremder sah den Übelstand;
Hier, dacht er, wird man dich
im Gehn bewundern müssen,
Und ging einher mit steifen Füßen.
Er ging, ein jeder sah ihn an,
Und alle lachten, die ihn sahn,
Und jeder blieb vor Lachen stehen,
Und schrie: "Lehrt doch den Fremden gehen!"
Der Fremde hielt's für seine Pflicht,
Den Vorwurf von sich abzulehnen.
"Ihr", rief er, "hinkt; ich aber nicht:
Den Gang müsst ihr euch abgewöhnen!"
Das Lärmen wird noch mehr vermehrt,
Da man den Fremden sprechen hört.
Er stammelt nicht; genug zur Schande!
Man spottet sein im ganzen Lande.
Gewohnheit macht den Fehler schön,
Den wir von Jugend auf gesehn.
Vergebens wird's ein Kluger wagen
Und, dass wir töricht sind, uns sagen
Wir selber halten ihn dafür,
Bloß, weil er klüger ist als wir.
Christian Fürchtegott Gellert (1715 - 1769), deutscher Dichter
Gellert galt zeitlebens als meistgelesener deutscher Schriftsteller.
Interpretation der Fabel "Das Land der Hinkenden" von Christian Fürchtegott Gellert
Gellerts Fabel ist eine Parabel auf gesellschaftliche Angepasstheit. Sie zeigt, wie stark der Mensch dazu neigt, sich Mehrheiten unterzuordnen - selbst dann, wenn diese Mehrheit ganz offensichtlich Unsinn lebt. Sobald etwas zur Gewohnheit wird, wird es kaum noch hinterfragt. Das gilt für Modetrends, Sprachgewohnheiten, politische Meinungen, Erziehungsmethoden und vieles mehr.
„Gewohnheit macht den Fehler schön, den wir von Jugend auf gesehn.“
Dieser Vers ist der Kern der Fabel. Wer lange genug in einer verkehrten Welt lebt, fängt an, sie für normal zu halten.
Gellerts 250 Jahre alte Fabel und der Spiegel unserer Zeit
Gellerts Fabel ist wie ein Spiegel für unsere Zeit. Sie spricht auf elegante Weise ein Phänomen an, das uns heute in Social Media, in politischen Debatten und sogar im Berufsleben begegnet: Wer sich nicht anpasst, fliegt raus. Wer anders ist, wird nicht neugierig beobachtet, sondern kritisch beäugt oder gleich als "abgehoben" abgestempelt. Und das, obwohl genau diese "Fremden" oft gesünder, reflektierter oder schlichtweg klüger sind.
Denken wir an:
- Die Kollegin, die sich gegen Dauerstress im Job wehrt und pünktlich Feierabend macht.
- Den Mitschüler, der nicht auf TikTok ist und trotzdem glücklich wirkt.
- Den Nachbarn, der kein Auto hat und lieber Fahrrad fährt.
Sie alle sind ein wenig wie der Fremde in Gellerts Fabel: Sie machen Dinge anders, und genau deshalb werden sie oft komisch angeschaut.
Klug, aber unbeliebt: Warum die Wahrheit oft unbequem ist
Am Ende der Fabel sagt Gellert, dass wir "Klügere" für dumm halten, einfach weil sie nicht so sind wie wir. Autsch. Ein bitterer, aber wahrer Gedanke. Es ist unbequem, sich selbst zu hinterfragen. Viel leichter ist es, den Boten der unbequemen Wahrheit auszulachen oder zu diffamieren.
Hier trifft Gellert einen Nerv, der bis heute zuckt: Kritik an der Norm wird nicht als Chance gesehen, sondern als Angriff. Der Klügere zieht oft den Kürzeren, weil er gegen Gewohnheit, Bequemlichkeit und Gruppenzwang keine Chance hat.
Einladung zur Reflexion
- Wo in deinem Leben machst du etwas nur, weil es alle anderen tun?
- Wann hast du das letzte Mal eine "seltsame" Meinung gehört und gleich abgewunken?
- Wie gehst du mit Menschen um, die sich bewusst abgrenzen oder gegen den Strom schwimmen?
Umfrage: Was machst du, wenn jemand sich völlig anders verhält als die Mehrheit?
Was machst du, wenn jemand sich völlig anders verhält als die Mehrheit?
Funfacts rund um Gellert und seine Fabeln
- Christian Fürchtegott Gellert war zu Lebzeiten so beliebt, dass sogar der junge Goethe ihn verehrte.
- Seine Fabeln waren Pflichtlektüre an Schulen und sollten zur moralischen Erziehung beitragen.
- Gellert selbst war eher schüchtern und ängstlich - und trotzdem ein scharfer Gesellschaftskritiker.
- "Das Land der Hinkenden" wurde mehrfach in Theaterstücke und moderne Lesungen eingebaut.
- Das Motiv "Alle machen es, also ist es richtig" taucht in der Popkultur immer wieder auf - von Monty Python bis Black Mirror (britische Fernsehserie).
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Antwort 1
Ich führe jedes Jahr eine Lese Challenge-Liste. Die sieht bspw. so aus: Fachbuch Bereich Geschichte, Fachbuch aus einem neuen Bereich, Biografie, Roman einer/eines lateinamerikanischen Autors/in, ... So kombiniere ich meine Interessen, ohne in Routine zu verfallen und lerne auch Neues kennen. Außerdem bleibe ich flexibel, weil ich keine konkreten Dinge benenne.
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Länge: 9:05 Minuten
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