Der Buddhismus ist reich an Geschichten, die den Menschen an seinen inneren Kern führen wollen. Dabei soll meist gezeigt werden, dass der Mensch im Inneren schon alles hat. Es will allerdings frei gelegt werden, so wie der Bildhauer die Figur aus dem Stein befreit.
So auch die Geschichte von den zwei Freunden, die finanziell ganz unterschiedlich gestellt waren. Der reiche Freund lebte in der Hauptstadt des Landes, er besaß dort ein Haus mit Park und mehreren Hausangestellten. Sein Freund hingegen wohnte in einer baufälligen Hütte auf dem Land, er konnte gerade einmal sechs Hühner sein eigen nennen.
Die Beiden hatten sich vor einigen Jahren auf einer Pilgertour um den heiligen Berg Meru kennen und schätzen gelernt. Sie waren am Tage weite Wegstrecken gemeinsam gegangen, schweigend. Am Abend hatten sie sich dann intensiv unterhalten. Beide suchten hingebungsvoll nach geistiger Klarheit und widmeten viel Zeit ihrer spirituellen Entwicklung.
Sie trafen sich seitdem zwei Mal pro Jahr. Meist kam der reiche Mann aus der Stadt zu seinem Freund aufs Land. Für ihn war die Reise doch deutlich komfortabler zu bewältigen, zudem musste er aufgrund seines Seidenhandels ohnehin des Öfteren diesen Teil des Landes bereisen.
Bei jedem Treffen erzählten die Beiden bis tief in die Nacht. Es wurde viel gelacht. Doch dieses Mal erkannte der Reiche eine Erschöpfung bei seinem Freund, wie er sie bisher an diesem nicht gesehen hatte. Die mühsame Feldarbeit zehrte mittlerweile spürbar an dessen Lebenskräften. Mit Sorge betrachtete der Reiche diese Entwicklung.
Am nächsten Morgen ereilte den Reichen ein Ruf, so dass er umgehend aufbrechen musste. Sein armer Freund schlief noch. Kurzentschlossen nähte der Reiche dem Armen einen stattlichen Diamanten in den Umhang und verschwand ohne Gruß, um den erschöpften Freund nicht zu wecken. Mit kindlicher Freude malte er sich das Gesicht des armen Freundes aus, wenn dieser den Diamanten in der provisorisch genähten Tasche entdecken würde. Der Edelstein war so wertvoll, dass sein Freund für den Rest seines Lebens nicht mehr würde arbeiten müssen.
Es ergab sich aber nun, dass besagter Ruf den reichen Freund für lange Zeit im Ausland festhielt. Als er nach mehreren Jahren in sein Heimatland zurückkehrte, reiste er sofort zu seinem Freund aufs Land. Wie sehr hatte er den Seelenbruder vermisst!
Als er vor der Hütte des Freundes ankam, wunderte er sich, warum diese immer noch so baufällig dastand. In dem kleinen Fenster war immer noch das Loch mit Tuch verhangen, das Dach war mittlerweile ein einziger Flickenteppich. Wozu hatte sein Freund das viele Geld aus dem Verkauf des Diamanten verwendet? Verunsichert trat er in die Hütte ein.
Sein Freund lag dösend auf einer Bank in der Küche. Nachdem er sich aus dem Halbschlaf gelöst hatte, fielen sich beide voller Freude in die Arme. Sofort begannen sie einander von den vergangenen Jahren zu berichten.
Irgendwann konnte der Reiche seine Frage nicht mehr zurückhalten: "Aber was hast du aus dem Diamanten gemacht, den ich dir in deinen Umhang genäht hatte? Er sollte eigentlich dein Los erleichtern ..."
Fragend starrte ihn der arme Freund an. Dann erhob er sich wie in Trance und holte den alten Umhang aus dem Schrank im Wohnraum. Nie war ihm die Wölbung unter der Seitentasche aufgefallen. Mit zitternden Händen trennte er die provisorische Naht des Diamantversteckes auf und holte den glitzernden Stein hervor. Mit Tränen in den Augen hielt er den Diamanten in die Sonne.
"Und dieser Schatz verbarg sich die ganze Zeit bei mir?"