1. Mathilde und Tiberius
„Einen Euro fünfzig“, dröhnte es aus dem Zeitungskiosk. Das rothaarige Mädchen mit den Sommersprossen durchsuchte die Hosentaschen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, reckte den rechten Arm und ließ die Münzen auf den orangefarbenen Plastikteller rasseln, wo sie surrend auskreiselten.
„Danke, Mathilde. Und grüß deinen Onkel“, sagte der Mann im Kiosk.
Sie schnappte die Zeitung, drehte sich um, rief „tschüss!“ und hüpfte in Richtung Marktplatz, wo sie den zweiten Sommer bei ihrem Onkel wohnte. Doch dieser Sommer würde anders werden.
Sie mochte den grauhaarigen Kioskbesitzer. Immer fand sich ein Lächeln in seinem zerklüfteten Gesicht, ob es regnete, schneite oder unsäglich heiß war wie im letzten Sommer. So war er, seit Mathilde ihn kannte. Nie ein Wort der Klage, der Wut oder der Ungeduld.
„Warum sind nicht alle Menschen so freundlich und glücklich?“, überlegte Mathilde. Hüpfend erreichte sie den Marktplatz des Städtchens, gelegen am Rande des Schwarzwaldes. Hier stand das Haus aus verwitterten Backsteinen, in dem sie seit dem Tod ihrer Eltern wohnte. Sie polterte die Treppe hinauf und drückte dreimal den Klingelknopf, denn sie hatte wie so oft ihren Schlüssel vergessen.
Doch keiner öffnete, und so ließ sie sich auf die Stufen fallen. Kaum Licht fiel durch die Fenster in diesen Teil des alten Hauses, und die meisten Glühbirnen waren kaputt. Müde starrte sie auf die Holzstufen und zählte: „17, 18, 19, 20“.
„Guten Tag, Mathilde! Was machst du hier?“
Mathilde schreckte auf und blickte sich um, konnte aber niemanden erblicken.
„Hier! Neben dir.“
Aber sie sah nur einen braunen Käfer.
Mathilde suchte nach der Herkunft der Stimme, als sie Schritte hörte. Eine Hand legte sich wie eine wärmende Mütze über ihren Kopf. Es war ihr Onkel, der vom Dachboden zurückgekommen war.
Mit seiner wie immer ein wenig traurig klingenden Stimme begrüßte er seine Nichte und schloss die Wohnungstür auf. Heraus strömte der Duft von Bratkartoffeln, Speck und Bohnen.
2. Die seltsame Frage
„Der doofe Wecker ist heute aber besonders laut“, fluchte Mathilde und zog sich das Kissen über den Kopf. Er schien nicht nur lauter zu sein, sondern auch früher zu klingeln. Geschickt rollte sie sich aus dem Bett, nahm ihren grünen Lieblingspullover vom Stuhl und schlurfte ins Badezimmer, um dort im Spiegel zwischen tausend Sommersprossen ein Lächeln zu suchen.
„Was hast du denn so früh schon vor?“, brummte ihr Onkel aus der Küche. „Es sind doch Ferien oder hast du das etwa vergessen?“
In der Tat, das hatte sie. Wie konnte ihr das nur passieren?
Sie wirbelte zum Bett und sprang wieder hinein. An Schlaf war jedoch nicht mehr zu denken, denn sie dachte an die Ferien – an Tage ohne Schule – an Tage mit viel Zeit.
„Hallo, Mathilde! Was machst du hier?“ Mathilde zuckte zusammen, als sie den Käfer vom Treppenhaus jetzt auf dem Nachttisch erblickte. Nicht, dass sie Angst vor Käfern gehabt hätte. Oh, nein! Nur, dass einer mit ihr sprach, das erschreckte sie schon.
„Was machst du hier?“, tönte es energischer.
„Komische Frage“, erwiderte Mathilde. „Ich liege im Bett, weil ich Ferien habe.“
„Das meine ich nicht!“, protestierte der Käfer. „Ich meine, was machst du auf dieser Welt? Was ist deine Aufgabe? Wo willst du hin?“
Mathilde starrte an die Decke und dachte über die Frage nach.
„Jetzt solltest du langsam doch mal aufstehen, Mathilde!“ Es war ihr Onkel, der aussah wie eine riesige Orange in seinem Arbeitsoverall. „Ich muss los. Frühstück steht auf dem Tisch. Milch ist im Kühlschrank. Bis heute Abend, Prinzessin.“ Er zog die Jalousien hoch und blieb einen Augenblick am offenen Fenster stehen. Bevor er das Zimmer verließ, drehte er sich im Türrahmen um und blinzelte seiner Nichte zu.
Mathilde blieb noch liegen und dachte an die seltsame Frage des Käfers:
„Was mache ich hier?“
„Ich bin erst acht Jahre alt“, murmelte Mathilde. „Was macht man da schon. Man geht zur Schule, hat Ferien, unternimmt mit seinen Freundinnen etwas und so.“
Verärgert schleuderte sie die Bettdecke zur Seite, rollte sich aus dem Bett, um einen denkwürdigen Tag zu erleben.
3. Schreckliche Ferien
„Guten Morgen, Mathilde!“, rief Tiberius, der die Zeitungen vor seinem Kiosk sortierte. Mathilde blieb neben dem grauhaarigen Mann stehen, lächelte gequält und lief nach kurzem Gruß weiter in Richtung Spielplatz.
Sie begann zu hüpfen. Es würde wunderbar sein, mit Tina und Ulrike etwas zu unternehmen: sich treffen, miteinander reden, Eis essen, gemeinsam faulenzen und nicht an die Schule denken. Sie hüpfte bei diesen Gedanken noch schneller und fing an zu pfeifen. Das konnte sie nicht besonders gut und das ärgerte sie. Aber irgendwann wollte sie das lernen, denn sie liebte es zu pfeifen. Ihr Onkel war hervorragend darin, auch wenn er es nur noch selten tat.
Auf dem Spielplatz angekommen, bemerkte Mathilde überrascht, dass ihre Freundinnen noch nicht da waren. Wo waren sie, es war doch schon nach zehn?
„Mathilde!“, rief jemand. Es war der kleine Pepe, er wohnte neben ihren Freundinnen. Sie ging zum Sandkasten.
„Tina und Ulrike? Die sind mit ihren Eltern nach Amerika geflogen. Das haben die ganz spät erst entschieden“, sagte Pepe.
Die Nachricht traf Mathilde wie ein Donnerschlag.
„Bist du traurig?“
Anstatt zu antworten sprang Mathilde auf, schüttelte ihre roten Haare und stapfte zur Turnburg – so nannten alle die Holz- und Seilkonstruktion in der Mitte des Spielplatzes. Sie setzte sich in eines der Holzhäuschen und grübelte wütend.
Plötzlich bemerkte sie einen Käfer, der so aussah wie jener, der ihr die Frage gestellt hatte. Aber er blieb stumm. Er war einfach nur da und rührte sich nicht.
„Was mache ich hier?“, flüsterte Mathilde in Richtung des Käfers. „Das ist eine wirklich schwere Frage. Ich weiß doch noch zu wenig, um das zu beantworten.“ Nachdenklich schaute sie zum Käfer, der sich nun langsam bewegte und hin und wieder die Richtung wechselte. Mathildes Augen fielen zu und sie begann zu dösen.
„Guten Taaag!“
Mathilde saß im Schneidersitz in ihrem Holzhäuschen, als sie die gedehnte Begrüßung hörte. Sie schaute sich um, konnte aber niemanden erblicken.
„Schaaau auf das Bodenbrett vor dir“, flüsterte eine Stimme. Vor ihr saß eine Schnecke, die in ihre Richtung blickte.
„Erst ein Käfer, jetzt spricht mich eine Schnecke an. Ich hoffe, ich bleibe von Spinnen verschont.“
Sie schaute sich nochmals um und überzeugte sich, dass niemand da war. Wie sähe es aus, wenn jemand sie dabei beobachtete, wie sie mit einer Schnecke redete. Als sie sicher war, wandte sie sich erneut ihrem Besuch zu und begrüßte ihn. Mathilde überlegte, welche Frage ihr die Schnecke wohl stellen würde.
„Nein, keine Fraaage. Ich möchte dir einen Rat geben und ein abenteuerliches Spiel vorstellen.“
Mathilde zog die Augenbrauen hoch und lauschte gespannt.
„Nutze diese sechs Ferienwochen und reise an den Ort Ziwusi. Hier wirst du die Antwort auf deine Fraaage finden. Wie du dahin kommst? Das ist gaaanz einfach. Sei so häufig wie möglich zur selben Zeit an der Turnburg. Bringe Buntstifte, einen Block und auch einen Apfel, Kekse und ein paar Gräääser mit. Gepäck brauchst du nicht“, erklärte die Schnecke und verabschiedete sich.
„Mathilde!“, kreischte es vom Sandkasten. Es war Pepe, der seine Sandburg präsentieren wollte. Aber Mathilde stand nur auf und trat nachdenklich den Weg nach Hause an.
"Eine abenteuerliche Reise? Das klingt gut", überlegte Mathilde.
4. Reisevorbereitungen
Was war das für eine schreckliche Nacht gewesen. Mathilde hatte wildes Zeug geträumt. Mit zerzaustem Haar saß sie am Frühstückstisch und biss lustlos ins Marmeladenbrot. Sechs Wochen Ferien ohne ihre Freundinnen, sprechende Käfer und Schnecken, Ziwusi ... In Mathildes Kopf wirbelten Gedanken umher und sie fing an, mit dem Messer Straßen auf ihrem Marmeladenbrot zu zeichnen.
Voller Selbstmitleid trank sie ihre Milch und verschluckte sich. Während des Hustens fiel ihr ein, was die Schnecke ihr empfohlen hatte. Besser als hier rumsitzen und sich bemitleiden. Mathilde sprang auf und packte flugs ihre Sachen für die Reise nach Ziwusi.
„Habe ich alles eingepackt? Buntstifte, Block, Kekse, Apfel – ach ja, Gräser muss ich noch besorgen!“
Am Kiosk blieb sie stehen. Er war geschlossen. Zum ersten Mal, seit sie denken konnte, war der alte Mann nicht an seinem Platz im Kiosk und die Zeitungen lagen nicht ordentlich sortiert in der Auslage. Nachdenklich setzte sie ihren Weg fort und sammelte auf dem Friedhof saftige Gräser.
Auf dem Spielplatz ging Mathilde schnurstracks zur Turnburg und suchte die Schnecke. Doch sie war nirgends zu finden, und so setzte sie sich an denselben Platz wie am Vortag.
Nach einer langen halben Stunde Warten nahm sie ihre Buntstifte aus der Jutetasche und legte sie sorgsam neben sich. Sie schlug die Deckseite vom Schreibblock um und schrieb auf das erste Blatt in großen roten Buchstaben:
Was will ich hier?
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Sprecherin: Inge Blesinger, freie Mitarbeiterin im blueprints Team
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