5. Die Reise beginnt
Selbst nach unendlichem Starren auf das Blatt fiel Mathilde, außer weiteren Fragen, nichts ein: „Was ist gemeint? Meine Aufgabe? Wo will ich hin? Wie soll ich anfangen?“
Während ihr Ärger wuchs, begann sie zu zeichnen. Auf dem Block war bald ein Pferd zu sehen. Etwas später saß ein Mädchen auf seinem Rücken und Noten tanzten um den Kopf der Reiterin. Sie hielt ein Büchlein in der Hand, auf dem die Zahl 3 zu erkennen war.
Überrascht lehnte Mathilde sich gegen die Holzwand der Turnburg und dachte über das Bild nach. Plötzlich sah Mathilde aus dem Augenwinkel wie sich neben ihr etwas bewegte.
„Du bist ja schon da, Maaathilde!“, sagte die Schnecke, die auf dem Fenstersims der Turnburg saß. „Hast du an die Gräääser gedacht?“
"Ja, hab ich. Schau hier."
„Wo hast du die schönen Gräääser her?“
Mathilde wurde verlegen, denn Gräser vom Friedhof erschienen ihr jetzt als etwas, was man doch nicht anbieten konnte.
„Aaach, vom Friedhof!“, rief die Schnecke. „Da waaachsen die besten Gräser, denn sie reifen in der Stille. Die meisten guten Dinge reifen nur in der Stille“, fügte die Schnecke hinzu.
Mathilde war erleichtert.
„Wie ich sehe, haaast du schon ohne mich begonnen, auf die Reise zu gehen.“
Erstaunt beobachtete Mathilde die Schnecke, hob die Schultern und kniff die Augen zusammen.
„Du bist doch in die Zukunft gereist. Oder wie soll ich dein Bild verstehen?“
Mathilde erklärte die Zeichnung. Das Pferd war schon lange ein sehnlicher Wunsch von ihr. Ein eigenes Pferd, auf dem sie reiten konnte, das sie fütterte und striegelte.
„Taaanzende Noten?“, fragte die Schnecke und zeigte mit dem linken Fühler auf das Bild. Mathilde lachte und erklärte, dass sie immer, wenn sie glücklich sei, ein Lied zu pfeifen versuche. Sie erklärte, dass sie es aber leider nicht richtig könne.
Die Schnecke nickte und fragte: „Und das Quaaadrat mit der Drei in der Mitte?“
Das war leicht zu erklären, denn die Fünf in Mathematik im letzten Zeugnis war Mathilde gar nicht recht gewesen. Eine Drei sollte doch mit ein wenig mehr Übung möglich sein. Die Schnecke hörte aufmerksam zu und schwieg lange.
Mathilde wurde ungeduldig, denn was hatte das alles mit der Reise nach Ziwusi zu tun? Sie hatte doch nur ein Bild gezeichnet.
„Nein, Maaathilde, das ist nicht nur irgendein Bild. Du bist in eine mögliche Zukunft gereist. Du waaarst in Ziwusi. Hat es dir dort gefallen?“
„Mathilde!“, hallte eine Stimme über den Spielplatz und die Schnecke verschwand. Es war Tiberius, der sich auf die Bank an der Schaukel gesetzt hatte. Erfreut packte Mathilde ihre Sachen zusammen und lief zur Bank.
„Hallo, junge Dame. Wie ich sehe, bist Du mit Malsachen auf dem Spielplatz. Was gibt es hier zu malen?“
Mathilde zögerte mit ihrer Antwort, denn wie sollte sie das erklären, ohne dass Tiberius sie für komisch hielt. Sie reichte ihm das Bild und beschrieb, was zu sehen war.
„Oh ja! Ein großartiges Bild“, sagte Tiberius. „Mit dem Pferd und der Mathematikzensur kann ich dir wohl kaum helfen, aber das mit dem Pfeifen könnte klappen. Es ist zwar furchtbar lange her, aber ich erinnere es noch genau.“
Tiberius erzählte, wie er als Junge auch unzufrieden mit seinen Pfeifkünsten war und wie sein Vater es ihm beigebracht hatte. Fast eine Stunde saßen die beiden auf der Bank und Mathilde übte nach der Methode von Tiberius‘ Vater.
Auf dem Weg nach Hause fiel Mathilde ein, dass sie vergessen hatte, Tiberius zu fragen, warum sein Kiosk geschlossen war. Beim nächsten Pfeiftraining würde sie es herausfinden.
6. Sechs Beine sind besser als zwei
Einige Tage waren vergangen und Mathildes Pfeifkünste entwickelten sich. Fast jeden Tag saß sie auf der Bank am Kiosk und übte mit Tiberius. Er rief ihr aus dem Kioskfenster Titel zu, die sie nachpfeifen musste.
Sicher – sie war noch lange nicht perfekt, aber erste Lieder waren bereits erkennbar. Sogar ihren Onkel bat sie, ihre Fortschritte zu testen, und er erkannte in der Tat eines der vier Lieder.
„Guten Morgen“, summte es in Mathildes Ohr. „Was ist eigentlich mit deinem Pferd und der Mathematikzensur?“
Mathilde zuckte zusammen. Sie hatte schon vergessen, dass Schnecken, Käfer und Co. begonnen hatten, mit ihr zu sprechen. Auf ihrem Marmeladenbrot landete eine Fliege, die sie mit einer Handbewegung in die Flucht schlug.
„Das ist aber nicht nett von dir!“, zeterte es vom Rand des Marmeladenglases. „Du könntest etwas abgeben von deinem Reichtum. Du würdest es nicht einmal bemerken.“
„Das stimmt. Aber wer will schon, dass jemand mit sechs Beinen auf seinem Marmeladenbrot herumspaziert, wenn er es danach noch essen möchte?“
Die Fliege schmunzelte. Mathilde nahm einen Teelöffel, kratzte etwas Marmelade vom Rand des Glases und legte ihn vorsichtig auf den Tisch.
Die Fliege nickte, flog zum Löffel und vergrub ihren Rüssel in der roten Masse. Während sie suckelte, beobachtete Mathilde sie erwartungsvoll. Aber sie sagte nichts. Die Fliege blieb stumm wie ein Fisch.
Nach zehn langen Minuten gab Mathilde es auf und fing an abzudecken. Als sie die Bestecke einsammelte, war die Sechsbeinige nicht mehr da. Wie lange sie die Küche auch absuchte, die geheimnisvolle Fliege blieb verschwunden.
7. Völlig vergessen
Hinter der Tür hörte man leises Pfeifen. Mathilde räumte auf, denn ihr Onkel hatte erneut seinen Unmut über die eigenwillig gewählten Ablageplätze für ihre Kleider und Sachen geäußert, – wobei es weniger ein Schimpfen als vielmehr eine traurige Aufforderung gewesen war. Sie hängte den blauen und den olivgrünen Pullover in den Schrank, nahm die Mathematikhefte von dem seit Monaten vogelleeren Käfig und warf die Schreiber und Buntstifte, die auf dem Bett lagen, in die Schublade.
Da fiel Mathilde ihre Ziwusi-Zeichnung in die Hände und sie musste an die Frage der Fliege denken: „Was ist eigentlich mit deinem Pferd und der Mathematikzensur?“
Sie hatte völlig vergessen, in die Turnburg zu gehen, um sich mit der Schnecke, dem Käfer oder welchem Insekt auch immer zu treffen. Sie hatte gar nicht mehr daran gedacht, dass sie erneut nach Ziwusi reisen wollte.
Ihr schlechtes Gewissen beschleunigte das Tempo der Aufräumarbeiten. Flugs packte sie danach ihre Tasche, rupfte Gräser auf dem Friedhof und lief mit dem Wind um die Wette. Es war schon nach zehn und in nicht einmal einer Stunde wollte sie sich mit Tiberius am Spielplatz treffen.
Kurz darauf saß Mathilde mit wild pumpendem Herzen in der Turnburg. Es war mittlerweile halb elf. Sie packte ihr Bild aus und suchte die Stämme nach Schnecken ab. Vergeblich.
Es begann zu regnen und ihre Laune verschlechterte sich. Wahrscheinlich würde Tiberius bei diesem Wetter gar nicht kommen.
„Mist. Ich hätte lieber zu Hause bleiben und in aller Ruhe mein Zimmer aufräumen sollen.“ Den Regen störte Mathildes Ärger nicht, denn er wurde noch stärker. Das Dach der Turnburg war für starken Regen nicht ausgelegt und so floh sie in das Häuschen der Bushaltestelle vor dem Spielplatz.
… 9, 10, 11-mal klang tief die Kirchenglocke, aber Tiberius war nicht in Sicht. Mathilde lauschte den Regentropfen, die mal leiser und mal lauter auf das Dach fielen.
„Hast du an die Gräääser gedacht?“ Mathilde zuckte zusammen und schaute sich um. Die Stimme kam ihr bekannt vor. Und in der Tat – auf einem Querbalken neben dem Fahrplan saß die Schnecke, die sie in der Turnburg gesucht hatte.
„Ich daaachte schon, du würdest nicht mehr kommen“, fuhr die Schnecke fort und bewegte sich zu den Gräsern, die Mathilde ihr mit einem Gesichtsausdruck der Entschuldigung hingelegt hatte. „Doch besser spät als gar nicht. Ich möchte dir gleich einen Tipp geben: Hilf dir selbst und häng dein Bild auf, damit du an unsere Reisetermine erinnert wirst. Zusätzlich leg dir ein Notizbuch an, in dem du alles rund um die Reisen notierst.“
„Du bist ja völlig nass“, dröhnte eine tiefe Stimme. Mit einem riesigen Regenschirm stand ein lächelnder Tiberius an der Bushaltestelle. „Du wirst dich noch erkälten, junge Dame. Komm, ich bring dich nach Hause und wir üben morgen, da soll das Wetter weniger nass sein. In manchen Zeitungen stand sogar etwas von Sonnenschein.“
Zitternd rutschte Mathilde von der Bank und folgte frustriert dem Rat von Tiberius.
8. Die arbeitslose Korkwand
Wieder zu Hause kochte Mathilde eine Tasse Tee und trank ihn am Schreibtisch. Zu ihrem Frust gesellte sich zunehmend das schlechte Gewissen über die vergessenen Reisen nach Ziwusi. Sie wollte unbedingt den Rat der Schnecke befolgen und in Zukunft ihrem Gedächtnis helfen.
„Seinem Gedächtnis helfen ist eine gute Idee, auch wenn man erst acht Jahre alt ist. Was ich in den letzten Tagen alles vergessen habe“, murmelte sie und schüttelte den Kopf. Der Schluck Tee linderte ihren Frust nur geringfügig.
Das Bild würde sie in Zukunft an ihre Vorhaben und Ziele erinnern, da war sich Mathilde sicher. Aber wie konnte sie es nur sichtbar aufhängen? Da fiel ihr ein, dass ihr Onkel eine Korkwand in der Abseite ihres Zimmers deponiert hatte. Sie würde ihn bitten, die Korkwand über ihrem Schreibtisch anzubringen, und schon könnte sie ihr Bild aufhängen.
Anfangs wollte Mathilde das Bild rahmen. Aber das erschien ihr später als nicht sehr klug, denn eventuell musste das Bild ja noch verändert werden. Auch ein Notizbuch war im Nu gefunden, denn in ihrer Gerümpelschublade lag noch eins mit karierten Seiten.
Vor einer dieser Seiten saß sie nun und überlegte, was sie schreiben sollte. Was waren die Erkenntnisse, die sie gewonnen hatte?
Zuerst notierte Mathilde, an welche Fragen sie sich erinnerte.
Was will ich hier?
Was mache ich hier auf dieser Welt?
Was ist meine Aufgabe?
Wo will ich hin?
Nun schrieb sie auf, was auf ihrem Bild zu sehen war:
Ich kann pfeifen.
Ich habe mein eigenes Pferd.
Ich stehe auf einer Drei in Mathematik.
Außerdem ergänzte sie auf einer neuen Seite, was die Schnecke über die Gräser vom Friedhof gesagt hatte, denn der Satz gefiel ihr.
Die meisten guten Dinge reifen nur in der Stille.
„Ach ja, die weitere Empfehlung der Schnecke hätte ich beinahe vergessen“, rief sie und notierte: Hilf dir selbst, damit du dich erinnerst.
Sie betrachtete die beiden Seiten und ihr Bild erneut. Es gefiel Mathilde, was da stand, auch wenn die Fragen des Käfers noch nicht beantwortet waren. Aber sie war ja erst am Anfang, und der war gut.
Wie würde die Reise wohl weitergehen? Was werden ihre neuen Freunde ihr noch empfehlen? "Egal", murmelte Mathilde nachdenklich, "es scheinen spannende Ferien zu werden."
Als Audio-Version
Sprecherin: Inge Blesinger, freie Mitarbeiterin im blueprints Team
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