Geschichte: Der gedeihliche Riss
Vor vielen Jahren holte Hausdiener Kildram jeden Morgen zwei Krüge Wasser aus dem Fluss Madrub zum Haus seines Herrn. Die beiden Krüge hängte er an die Enden eines Holzstabes, den er über der Schulter trug.
Einer der beiden Krüge bekam eines Tages einen Sprung, sodass er auf dem Weg vom Fluss bis zum Haus die Hälfte seines wertvollen Inhaltes verlor. Dieser Krug bemühte sich nach Kräften, seinen Riss wieder zu verschließen. Doch so sehr er sich auch anstrengte, es tröpfelte immer etwas heraus. Der beschädigte Krug wurde sehr zornig mit sich.
So ging es ein ganzes Jahr lang, unser kaputter Krug wurde von Tag zu Tag trauriger. Dann hielt er es nicht mehr aus. Mit Verzweiflung in der Stimme wendete er sich an Kildram und klagte:

"Verehrter Kildram, ich schäme mich so. Stets verliere ich die Hälfte des Wassers auf dem Weg. Bitte ersetzt mich, ich bin es nicht länger wert, von euch getragen zu werden."
Doch Kildram reagierte ganz anders als erwartet. Liebevoll streichelte er den traurigen Krug über den Rand und bat ihn, am nächsten Morgen auf dem Rückweg vom Fluss doch einmal mit Achtsamkeit auf den Wegesrand zu schauen. Verwundert sagte ihm der Krug dies zu. Doch er fragte sich insgeheim, was dabei denn herauskommen sollte.
Dennoch war er schon jetzt nicht mehr ganz so traurig. Die netten Worte von Kildram hatten ihn richtig glücklich gemacht. Er war immer davon ausgegangen, dass der Wasserträger voller Zorn auf ihn war. So hatte er sich eben aber ganz und gar nicht angehört ... Zum ersten Mal seit langer Zeit schlief der beschädigte Krug in wohliger Stimmung ein.
Am nächsten Morgen erwachte unser Krug früher als sonst. Er konnte es kaum erwarten, dass Kildram ihn anheben und zum Fluss bringen würde.
Als es endlich so weit war und sie sich auf dem Rückweg befanden, betrachtete der Krug seine Seite des Weges ganz genau. Überall wuchsen herrliche Wildblumen. Wie jeden Morgen pflückte Kildram ein paar davon und steckte sie vorsichtig in seine Tasche.
Am Hause angekommen fragte Kildram den Krug: "Und, hast du etwas wahrgenommen?"
"Ja, ich habe schon wieder die Hälfte des Wassers verloren."
"Das meine ich nicht, Dummerchen. Hast du denn die vielen Blumen nicht gesehen."
"Doch, natürlich. Aber was haben die mit mir zu tun?"
Kildram lachte laut auf. "Lieber dummer, kaputter und ach so wertvoller Krug du. Ist dir denn gar nicht aufgefallen, dass auf dem gegenüberliegenden Wegesrand nur trockenes Gras vor sich hinwelkt? Seitdem du den Riss hast und die eine Seite jeden Tag mit deinem Wasser beschenkst, wachsen dort die herrlichsten Wildblumen.
Jeden Morgen pflücke ich ein paar davon und lege sie meiner Herrin auf den Tisch. Sie hat mich schon oft dafür gelobt, einmal habe ich sogar drei Tage frei bekommen. Alle Bewohner des Hauses freuen sich darüber, dass sie auf ihrem Weg in das Dorf nun solch eine Blumenpracht genießen dürfen. Und das alles dank dir und deinem Riss."
Quelle unbekannt, nacherzählt von Peter Bödeker
Die Geschichte im Kontext
Deutung der Allegorie
Die Geschichte von Kildram und dem rissigen Krug ist eine klassische Allegorie, die verdeutlicht, dass vermeintliche Schwächen oder Fehler oft unerwartete Stärken und positive Wirkungen entfalten können. Der Riss im Krug, zunächst ein Makel, wird zur Quelle von Schönheit und Sinnhaftigkeit. Es ist ein Gleichnis dafür, dass auch Menschen mit "Rissen" – seien es Schwächen, Verletzungen oder Brüche – einen wertvollen Beitrag leisten können.
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Psychologische Perspektive
Aus psychologischer Sicht lässt sich die Geschichte als Aufruf zur Selbstakzeptanz verstehen. Viele Menschen hadern mit ihren eigenen Unzulänglichkeiten. Die Erzählung lädt dazu ein, den Blickwinkel zu ändern: Was zunächst wie ein Defizit wirkt, kann im Kontext des Lebens und der Gemeinschaft ein besonderer Wert sein. Dies stärkt das Selbstwertgefühl und fördert Resilienz. Mehr dazu:
Das Gefühl, nicht gut genug zu sein Die Befürchtung "Ich bin nicht gut genug" ist leider keine Antriebsfeder für Verbesserungen, sondern eher ein Hemmschuh und ein klebriger, unangenehmer Schleier auf unserer Seele. Viele kennen dieses Gefühl, das uns mal stärker und mal schwächer beeinflusst. Die Auswirkungen sind unterschiedlich, aber selten hilfreich. Negative Gedanken, Blockaden, unfaire Selbstkritik, Rückzug, sich unwohl fühlen, Unsicherheit, geringes Selbstvertrauen und fehlender Mut, seine Komfortzone zu erweitern. Lies hier, was wir gegen das Gefühl "nicht gut genug sein" tun können. Beitrag: Das Gefühl, nicht gut genug zu sein
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Philosophische Einordnung
Im Kern transportiert die Geschichte eine stoische Haltung: Die Dinge sind nicht per se gut oder schlecht – ihre Bedeutung ergibt sich aus der Sichtweise, die wir auf sie haben. In der stoischen Philosophie gilt es als Tugend, Unveränderliches anzunehmen und aus allem das Beste zu machen. Der Hausdiener Kildram verkörpert diese Haltung durch seine wertschätzende Sicht auf den beschädigten Krug.
Viele unserer Tätigkeiten des Tages dienen bewusst oder unbewusst dazu, angenehme Gefühle in uns entstehen zu lassen und Leid zu vermeiden. Wir wollen mehr von dem, was uns gefällt und weniger, was Schmerz oder Unwohlsein auslöst. Doch die schlechten Gefühle kommen leider nicht nur, wenn wir sie rufen. Welche Möglichkeiten haben wir im Umgang mit unseren Gefühlen? Wie können wir intelligenter mit Gefühlen in unseren menschlichen Beziehungen umgehen? Selbstwirksamer, so dass am Ende kein Scherbenhaufen zu beklagen ist, sondern der wahre (oft verborgene) Wunsch hinter unseren Gefühlen ins Bewusstsein treten kann. Schauen wir uns die Möglichkeiten an ► interessantes Wissen zu unseren Gefühlen ► wichtig: Gefühle bewusst wahrnehmen ► allgemeine Empfehlungen zum Umgang mit Gefühlen ► Spezialtipps zu einzelnen Gefühlen ► Leserumfrage: Was funktioniert?Beitrag: Mit Gefühlen umgehen lernen
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Pädagogische Anwendbarkeit
Die Erzählung eignet sich hervorragend für pädagogische Kontexte, etwa im Schulunterricht oder in der Persönlichkeitsentwicklung. Sie kann Kindern und Jugendlichen helfen, einen positiveren Umgang mit ihren eigenen "Fehlern" zu finden und die Vielfalt individueller Begabungen zu schätzen. Die Geschichte fördert Empathie, Toleranz und ein Verständnis für das Prinzip "Stärken durch Schwächen".
Stärken und Schwächen herausfinden Hier weiterlesen: Stärken und Schwächen herausfinden Ähnliche Motive finden sich auch in anderen Kulturen. In der japanischen Philosophie des "Wabi-Sabi" etwa wird die Schönheit des Unvollkommenen und Vergänglichen gewürdigt. Besonders eindrucksvoll ist das Prinzip des "Kintsugi", bei dem zerbrochene Keramik mit Gold repariert wird – der Bruch wird nicht verborgen, sondern hervorgehoben und veredelt. Dies spiegelt denselben Gedanken wie in der Geschichte wider: Der Bruch ist Teil des Wertes. In einer Leistungsgesellschaft, die Perfektion oft überbetont, liefert die Geschichte einen wohltuenden Gegenakzent. Sie erinnert daran, dass Wert nicht allein durch Effizienz oder Fehlerfreiheit entsteht. Vielmehr liegt in Vielfalt und Individualität ein tiefer Sinn – eine Botschaft, die auch in inklusiven und sozialen Kontexten zunehmend an Bedeutung gewinnt. Auch im beruflichen Umfeld kann die Geschichte Impulse setzen. Sie verdeutlicht, dass Teams davon profitieren, wenn unterschiedliche Talente und Persönlichkeiten zusammenkommen – auch jene, die nicht in ein klassisches Leistungsprofil passen. Die Geschichte plädiert für einen wertschätzenden Umgang mit Mitarbeitenden, die auf den ersten Blick "anders" wirken. Siehe dazu auch:
Die Walt-Disney-Methode ist eine faszinierende Kreativitätstechnik, die auf dem Prinzip des Rollenspiels basiert. Diese Methode ermöglicht es, Probleme und Herausforderungen aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und zu diskutieren. Ihre einzigartige Herangehensweise hat sie zu einem beliebten Instrument in der Welt des kreativen Denkens und der Problemlösung gemacht.
➔ Zu allen Geschichten und Fabeln auf blueprints Peter hat Volkswirtschaftslehre studiert und arbeitet seit seinem Berufseinstieg im Bereich Internet und Publizistik. Nach seiner Tätigkeit im Agenturbereich und im Finanzsektor ist er seit 2002 selbständig als Autor und Betreiber von Internetseiten. Als Vater von drei Kindern treibt er in seiner Freizeit gerne Sport, meditiert und geht seiner Leidenschaft für spannende Bücher und ebensolche Filme nach.Beitrag: Stärken und Schwächen herausfinden
Stärken und Schwächen herausfinden – warum wir sie kennen sollten
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Geschrieben von
Peter Bödeker
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