29. Eine verrückte Melodie
„Hallo, liebe Mathilde, wie geht es dir?“
Die Stimme kam aus dem Kleiderhaufen, der sich neben ihr auf dem Bett befand. Mathilde schreckte aus ihren Gedanken und blickte gespannt auf den Berg aus Hosen, Socken und Pullover.
„Hast du nicht etwas vergessen?"
Der Käfer krabbelte aus dem Ärmel eines grünen Pullovers.
„Wolltest du nicht Tiberius eine Freude machen, weil er dir die Reitsachen schenkte? Und hast du nach seinem guten Rat nicht einen weiteren Grund, dich zu bedanken?“
„Oje! Ja, das stimmt“, seufzte Mathilde.
„Du hast ein wunderbares Buch, in dem du einiges notierst. Warum nicht auch solche bedeutsamen Dinge?“, fragte der Käfer und machte eine Pause.
„Hilf dir selbst und notiere so etwas. Viele glauben, sie bräuchten das nicht. Sie meinen, sie würden sich auch so erinnern. Doch hinterher kommen andere Aufgaben dazwischen und es wird vergessen. Eines Tages erinnern sie sich daran. Vielleicht ist es an diesem Punkt schon zu spät. Manchmal erzeugt das ein schlechtes Gewissen. Eventuell entstehen Stress und Unzufriedenheit. So wie jetzt bei dir.“
Mathilde notierte:
- Dankeschön für Tiberius besorgen
Auf der Seite, wo schon das Folgende zu lesen war:
Hilf deinem Glück, indem du dich verpflichtest, darauf zuzugehen, und zwar Schritt für Schritt.
Manchmal sollte man einfach vertrauen.
Mit viel Übung kann man viel erreichen.
ergänzte sie:
Schreib deine Aufgaben, Ideen und alle anderen wichtigen Punkte in dein Notizbuch, um dich zu erinnern.
„Eins noch. Dein Buch ist schon voll mit tollen Ideen, Zielen, WIEs und Aufgaben. Vergiss aber bitte das Tun nicht. Sonst notierst du nur noch und vergisst, dass du das alles auch in die Tat umsetzen musst.“
„Teilweise klappt das. Aber manchmal leider nicht“, erwiderte Mathilde, während sie mit dem Stift in ihrem Hausschuh herumbohrte.
„Schau nicht so traurig! Du hast doch schon viel geschafft. Aber so mancher neigt dazu, lässig und selbstzufrieden zu werden, wenn er etwas erreicht hat. Sei nicht zu euphorisch in den guten Tagen und nicht zu betrübt in den Tagen, wo es nicht so läuft“, sagte der Käfer.
Mit dem Stift bearbeitete Mathilde weiterhin den Schuh und wartete, dass der Käfer weitersprach. Was er jedoch nicht tat, denn er hatte sie erneut grußlos in ihrem Zimmer zurückgelassen. Die Bohrungen im Hausschuh wurden eingestellt, sie setzte sich an ihren Schreibtisch und notierte:
Vergiss das Tun nicht.
Sei nicht zu euphorisch in den guten Tagen und nicht zu betrübt in den Tagen, wo es nicht so läuft.
Es war spät, und morgen in aller Frühe wollte sie Zeitungen austragen.
„Jetzt aber etwas schneller schlafen“, dachte Mathilde und musste lachen. Dann schlief sie ein.
Gegen Mitternacht wachte sie auf, der Wind hatte eine Stelle gefunden, die er zum Pfeifen nutzte.
„Was für ein Lied? Was für eine verrückte Melodie!“, dachte Mathilde. Lange lag sie wach und lauschte dem unheimlichen Pfeifen. Dann plötzlich hatte sie eine Idee – eine großartige Idee. Eine, die nicht nur dem Käfer gefallen würde.
30. Das Geschenk
Die Hände schmerzten und die gepfiffene Tonleiter war nicht viel schöner als das Kratzen des Schleifpapiers.
„Hallo, Frau Handwerkerin!“
„Marei! Wo kommst du auf einmal her? Hab dich überhaupt nicht bemerkt.“
„Gummireifen sind zum Anschleichen nicht von Nachteil."
„Schleichfahrt könnte man sagen“, gluckste Mathilde und Marei hielt lachend den rechten Daumen nach oben.
"Das ist ein toller Holzrahmen“, sagte Marei.
„Findest du?“
„Was wird er rahmen?“
Mathilde warf das Schleifpapier in den Werkzeugkasten und legte den Rahmen auf eine Stufe. Sie sprang auf und bemerkte, dass sie schon lange gesessen hatte.
„Gregor malt Tiberius und mich beim Angeln. Tiberius ist Angler und ich habe dir ja erzählt, dass er weder Kinder noch Enkel hat. Ich denke, dass ihn das Bild freuen wird“, antwortete Mathilde. „Da bin ich mir sicher. Aber wieso willst du ihm etwas schenken?“
„Weil er mir schon so oft mit gutem Rat geholfen hat und mir das Pfeifen beibringt. Außerdem hat er mir die Reitsachen seiner verstorbenen Frau geschenkt.“
Mathilde suchte nach dem feineren Schleifpapier im Werkzeugkasten, der nicht nur riesig, sondern auch unaufgeräumt war. Hammer, Zangen, Schraubenzieher, Schrauben, Nägel … alles war da, aber nicht das blöde Schleifpapier. Der Kasten bekam einen verdienten Fußtritt und Mathilde wandte sich wieder ihrer Besucherin zu.
„Marei, darf ich dich was fragen?“
„Ja, natürlich.“
„Warum bist du immer so freundlich. Wieso strahlst du immer so?“
Marei legte den Kopf schräg, löste die Rollstuhlbremse und fuhr vor und zurück. Sie war sichtlich überrascht. Eine ganze Weile musste Mathilde warten bis ihre neue Freundin antwortete.
„Ich kann das spontan nicht sagen. Aber du willst ja auch den Rahmen fertig kriegen. Da habe ich Zeit, darüber nachzudenken. Treffen wir uns morgen. Was hältst du von drei Uhr?“
„Da kommt Gregor schon zum Spielplatz und bringt mir das Bild. Komm doch dazu.“
„Gerne. So lern ich den Künstler kennen“, sagte Marei.
Einige Zeit später beendete Mathilde die Schleifarbeiten und strich den Rahmen mit weißer Farbe an. Sie musste nur noch das Bild einpassen, eine rote Schleife anbringen und danach Tiberius überraschen. Sie konnte es kaum erwarten, das Geschenk zu überreichen. Auch war sie gespannt, was Marei ihr erzählen würde. „Komisch“, dachte Mathilde, „jeder andere hätte sofort geantwortet. Nur Marei will vorher in Ruhe nachdenken. Spannend, spannend. Ach ja, und wie sieht Gregors Bild aus? Die Tage sind interessanter als sonst“, sagte Mathilde zu sich selbst.
31. Das Lächeln-Spiel
Gregor hatte die letzten beiden Abende am See verbracht, um das Abendrot und die Abenddämmerung zu beobachten.
„Das Licht war zu schwach, um zu zeichnen. Ich habe Skizzen angefertigt und mir Notizen zu Farben und Formen gemacht“, erklärte er.
Marei und Mathilde saßen mit offenem Mund vor dem Bild. Sie konnten sich gar nicht beruhigen, denn immer mehr Details fielen ihnen auf und machten sie sprachlos, was bei den beiden klang wie „Wow! Großartig! Schau mal! Das ist ja klasse! …“
„Du hast das Bild ja gar nicht signiert“, sagte Marei.
„Das stimmt nicht ganz.“ Gregor schmunzelte und deutete auf die linke obere Seite des Bildes. „Schaut euch den Busch an ... dort neben der Badestelle.“
Jetzt sah es auch Marei. Ein Gesicht versteckte sich zwischen den Blättern und Zweigen. Die Zweige bildeten bei genauem Hinsehen die Form seiner Initialen „GK“. Ein weiteres Wow entwich Marei, die dabei begeistert auf die Armlehnen des Rollstuhls schlug.
„Tiberius hat hoffentlich nichts dagegen, wenn ich beim nächsten Aal-Angeln dabei bin. Die Abende am See haben mich neugierig gemacht. Der Mond spiegelt sich im Wasser, es gibt unheimliche Geräusche, und man kann sich Geschichten am knisternden Lagerfeuer erzählen“, sagte Gregor, wobei er die letzten Worte rasselnd hustete. Als Gregor gegangen war, saßen Mathilde und Marei Seite an Seite. Die eine im Rollstuhl und die andere auf der Bank. Sie blickten auf das Bild, das vor ihnen im Gras lag. „Ein wirklicher Künstler“, sagte Marei.
„Ja, das finde ich auch!“
Marei zog einen Zettel aus der Jackentasche. „Ich hab über deine Frage nachgedacht. Weil ich mir nicht völlig sicher war, was ich dir antworte, und du immer alles sofort notierst, wollte ich mir Bedenkzeit geben.“
Mathilde nickte. „Darf ich mitschreiben?“
„Natürlich“, sagte Marei.
„Warum bist du immer so freundlich und strahlst stets, wenn ich dich sehe?“, wiederholte sie Mathildes Frage. Marei zupfte ihren Rock zurecht, ihr Blick schweifte in die Weite und sie fing an zu erzählen:
„Meine Urgroßmutter hat mir ein Spiel beigebracht. Bei diesem Spiel soll ich auf Menschen achten, die kein Lächeln haben, um ihnen eines von meinen zu schenken. Das war anfangs nicht leicht, aber schon bald klappte es immer besser, und es macht mir heute noch Spaß.“
Mathilde nickte und notierte. Von diesem Spiel hatte sie nie zuvor gehört.
„Außerdem hat mir mein Urgroßvater eine Geschichte erzählt, die ich nie vergessen werde. Sie geht so: In Indien gab es den Tempel der tausend Spiegel. Er lag hoch oben auf einem Berg und sein Anblick war gewaltig. Eines Tages kam ein Hund und erklomm den Berg. Er stieg die Stufen hinauf und betrat den Tempel der tausend Spiegel.
Als er in den Saal der tausend Spiegel kam, sah er tausend Hunde. Er bekam Angst, sträubte das Nackenfell, klemmte den Schwanz zwischen die Beine, knurrte furchtbar und fletschte die Zähne. Und tausend Hunde sträubten das Nackenfell, klemmten die Schwänze zwischen die Beine, knurrten furchtbar und fletschten die Zähne. Voller Panik rannte der Hund aus dem Tempel und glaubte von jetzt an, dass die ganze Welt aus knurrenden, gefährlichen und bedrohlichen Hunden bestünde.
Einige Zeit später kam ein anderer Hund. Auch er stieg die Stufen hinauf und betrat den Tempel. Als er in den Saal mit den tausend Spiegeln kam, sah auch er tausend andere Hunde. Er aber freute sich. Er wedelte mit dem Schwanz, sprang fröhlich hin und her und forderte die Hunde zum Spielen auf. Dieser Hund verließ den Tempel mit der Überzeugung, dass die ganze Welt aus netten, freundlichen und ihm wohlgesinnten Hunden bestehe.“
„Das ist eine außergewöhnliche Geschichte und das Lächel-Spiel gefällt mir gut!“ Mathilde hatte ihr Notizbuch auf der Armlehne von Mareis Rollstuhl aufgeklappt. Während sie schrieb, wippte ihr Kopf, und ihr linkes Bein federte rhythmisch, als höre sie Musik.
„Nach meinem Unfall haben mir das Spiel und die Geschichte geholfen. Noch heute spiele ich das ‚Lächeln verschenken‘, um meine Urgroßeltern zu ehren. Es gibt zwar Tage, da ist mir nicht danach, aber ich habe festgestellt, dass an solchen Tagen das Spiel unersetzlich ist.
An die Geschichte aus Indien denke ich vor allem, wenn ich neuen Menschen begegne. Und so habe ich schon viele wertvolle Menschen kennen gelernt. So wie dich, Mathilde.“
Mathilde wurde rot und hörte auf zu schreiben. Mit einem Kloß im Hals sagte sie: „Danke, Marei“. Abends saß Mathilde auf dem Rand ihres Bettes und blätterte in ihren Notizen aus den letzten Tagen und Wochen. Sie dachte über ihre Abenteuer nach und markierte alles Wichtige.
Die Kirchturmuhr schlug neun und sie legte bewusst mit dem letzten Schlag das Notizbuch auf ihren Nachttisch. Danach ließ sie sich ins Bettkissen fallen, schaute ein letztes Mal auf das Bild für Tiberius und knipste das Licht aus. Im Halbschlaf hörte sie noch das Klingeln des Telefons und wie ihr Onkel leise sprach. Es war nicht zu verstehen, was er flüsterte. So sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte es nicht deuten. Dann nahm der Schlaf Mathilde in seine Arme.
32. Zimmer 217
Die Schritte hallten in den Gängen, es roch nach Desinfektionsmittel, Lichtröhren summten und vergilbte Aquarellbilder machten den hilflosen Versuch, die Wände zu schmücken. „Was für ein trauriger Ort“, überlegte Mathilde, die mit ihrem Onkel auf dem Weg zum Krankenzimmer 217 war. Auf dem Weg zu Tiberius.
Sie trug das Geschenk mit der roten Schleife, das sie schon vor einigen Tagen überreichen wollte. Der Herzinfarkt von Tiberius hatte das verhindert. Ihr Onkel öffnete die Tür, und Mathilde hob das Bild ein wenig höher, wie ein Schutzschild. Tiberius saß im Krankenhemd auf dem Bett und las. Aufrecht und lächelnd – so, als säße er vor seinem Kiosk. Der einzige Unterschied war – abgesehen von dem Krankenhemd – der Schlauch an seinem rechten Handgelenk, der zu einem Gestell führte, an dem ein Beutel mit Flüssigkeit hing.
„Mathilde! Meine Pfeifschülerin und ihr Onkel besuchen mich im Krankenhaus. Der Tag ist gerettet“, rief Tiberius.
Mathilde streckte ihm ihre zitternde Hand entgegen. Sie wusste nicht, ob sie traurig oder vergnügt sein sollte.
„Kein Grund, so ein Gesicht zu machen. Es geht mir bestens, nächste Woche stehe ich wieder im Kiosk. Und Ende der Woche bin ich bereit für den Pfeiftest meiner Lieblingsschülerin. Ich bin gespannt, wie sie abschneiden wird“, sagte Tiberius und lächelte.
Mathildes Gesichtszüge entspannten sich, denn es schien Tiberius gut zu gehen. Dieser grauhaarige Mann würde ihr fehlen, sollte er eines Tages nicht mehr da sein.
Auf den Pfeiftest war sie gut vorbereitet. Sie hatte täglich geübt, und ihre Art, Zeitungen auszutragen, war mittlerweile nicht nur im Ort bekannt, sondern auch förderlich für ihre Pfeifkünste.
Ihr Pfeifen war für einige zum Boten für druckfrische Meldungen und gute Laune geworden. Ihr Pfeifen, wenn es auch nicht perfekt war, motivierte immer mehr Frühaufsteher im Morgenrock oder mit noch ungebundener Krawatte vor die Tür zu gehen, um von ihr persönlich die Zeitung entgegenzunehmen. Mathildes Onkel deutete auffällig-unauffällig auf das Bild, das neben dem Bett stand. Wortlos lächelnd überreichte sie es Tiberius, der es auf seinen Schoß legte und betrachtete. Nach einer Weile stand er auf und begutachtete es aus ein paar Metern Entfernung. Er schien in das Bild einzutauchen und den Raum zu verlassen.
Tiberius nahm Mathilde in den Arm und sagte: „Danke!“
Das ganze Schleifen, die wunden Finger und das Abstimmen mit Gregor hatten sich gelohnt, das wusste Mathilde in diesem Moment. Abends machte sie einen Haken hinter der Aufgabe Geschenk für Tiberius besorgen. „Das war ein gutes Gefühl“, dachte sie. „Ich habe eine Aufgabe erledigt, Tiberius eine Freude gemacht und bin den eigenen Zielen ein Stückchen näher gekommen. Klasse, wenn man so viele Punkte miteinander verbinden kann.“ In aller Frühe wollte sie Zeitungen austragen und so legte sie Hose, Pullover, Jacke und Schuhe auf den Stuhl neben das Bett. Aber erst viel später schlief Mathilde ein, denn sie hatte erneut über den Pfeiftest nachgedacht. Beim Grübeln fiel ihr ein, dass die Mathematikarbeit nur zwei Wochen entfernt war. Dieses Gespenst raubte ihr noch lange den Schlaf.
In einigen Tagen geht es weiter.
(c) Michael Behn
Als Audio-Version
Sprecherin: Inge Blesinger, freie Mitarbeiterin im blueprints Team
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