Seit etlichen Monaten ging Virgo täglich an einem Hang vorbei, an dem ein Mann eine Mauer baute. Tagein, tagaus sah er ihn Steine von den Feldern holen, sie wie Puzzleteile aufeinander zu stapeln und deren Sitz zu prüfen. Schritt für Schritt wuchs die Mauer, die er zum Hang hin ständig mit schwerer, lehmiger Erde auffüllte. Langsam entstand so ein kleines Plateau.
Die wunden Hände des Mannes waren geschäftig von früh am Morgen bis spät in den Abend. Virgo war verwundert über den alten Mann, der trotz der schweren Arbeit immer ein Lächeln auf seinem faltigen Gesicht trug.
Doch eines Morgens, auf dem Weg zur Arbeit, blieb Virgo vor der mittlerweile mächtigen Mauer stehen. Das Plateau hinter der Mauer war bereits so groß wie ein Tennisfeld.
Der alte Mann wuchtete gerade einen schweren Stein in eine Lücke. Als dieser dann knirschend passte, prüfte er zufrieden den Mauerabschnitt.
Virgo reichte es. Er ging dichter an die Mauer und winkte dem Mann zu. Er sagte: "Gestatte, alter Mann! Was tust Du da? Und warum schaust Du in Gottes Namen immer so zufrieden? Deine Arbeit bereitet mir schon beim Zusehen Schmerzen."
Der alte Mann drehte sich um und winkte Virgo zu sich. Als er neben dem Alten stand, deutete dieser in Richtung der unter ihnen liegenden Felder. Bodennebel zog über die Wiesen, ein Reiher hob ab und flog in Richtung der aufgehenden Sonne.
Scheinbar in Gedanken versunken sagte er: "In der fertigen Steinmauer werden Eidechsen, Erdhummeln und Zwergfledermäuse wohnen. Auf dem Plateau wird mein kleines Haus stehen. Und genau hier, wo wir jetzt stehen, werde ich dann auf einer Bank sitzen und mich von der Arbeit ausruhen."
Virgo lächelte dem alten Mann zu. Er wusste, was er meinte, blickte dann wieder über Felder, auf denen die Nebelschleier anfingen sich aufzulösen, und genoss einen Moment die Strahlen der aufgehenden Sonne.
Michael Behn