Die Abendsonne beschien mit goldenen Strahlen eine riesige Fichte, die an einer felsigen Berghalde stand. Ihr stachliges Laub prangte im schönsten Grün, und ihre Äste waren wie mit Feuer übergossen und glänzten weit sichtbar. Sie freute sich über ihren Glanz und meinte, all diese Herrlichkeit gehe von ihr selbst aus und sei ihr eigener Verdienst, so dass sie eitel wurde. Prahlend rief sie: "Seht her, ihr anderen Gewächse und Geschöpfe, wo erscheint eines in solcher Pracht wie ich edle Fichte? Gewiss, ihr seid zu bedauern, dass euch der Schöpfer nicht schöner geschmückt hat."
Das hätte sie nicht rufen sollen.
Die Sonne hörte diese eitle Rede und wurde ärgerlich, so dass sie ihre Strahlen von der Fichte weg auf einen dunklen Teich wandte, der unten am Berge in tiefer Ruhe lag. Die Fichte sah nun so öd und traurig aus wie vorher. Der Teich aber bewegte sich freudig in kleinen goldenen Wellen und widerstrahlte das Bild der Sonne in tausend Feuerpunkten. Auch er wurde stolz darauf und glaubte letztlich, er selbst sei die Quelle all dieser Klarheit, und verspottete die anderen Gewässer, die im Schatten lagen.
Da wurde die Sonne abermals ärgerlich, zog Wolken zusammen, in denen sie sich verhüllte, und der Teich lag wieder in seinem düsteren melancholischen Grau und schämte sich. Die Wolken hingegen begannen jetzt zu glühen und zu scheinen wie Purpur als die Erde schon im Schatten lag. Da wurden auch sie übermütig und riefen: "Glänzen wir nicht viel schöner als die Sonne?" Und zum dritten Male wurde die Sonne ärgerlich. Indem sie am Horizont versank, entzog sie ihre Strahlen den undankbaren Luftgebilden. Wolken, See und Bäume verschwammen in der grauen Dämmerung und letztendlich übergab sie so alle eitlen Geschöpfe der Vergessenheit der Nacht.
Gottfried Keller, schweizer Dichter, 1819 - 1890, leicht angepasst an die heutige Sprache von Michael Behn, blueprints Team