Rainer Maria Rilke über die Geduld
Im Strom der Zeit scheint die Geduld oft unterzugehen wie eine leise Note in einem Orchester aus lauten Stimmen. Doch gerade die Werke Rainer Maria Rilkes werfen ein warmes Licht auf diese fast vergessene Tugend. Wenn wir uns in die Tiefe seiner Zeilen begeben, entdecken wir, dass Geduld mehr ist als nur das Warten – sie ist ein Schlüssel zur Tiefe des Lebens und des kreativen Geistes. Der Lyriker Rainer Maria Rilke (* 4. Dezember 1875 in Prag, Österreich-Ungarn; † 29. Dezember 1926 im Valmont bei Montreux, Schweiz) hat in verschiedenen Lebensphasen eindringlich zur Geduld ermahnt. Seine Worte können auch heute noch Orientierung in unserer schnelllebigen Zeit bieten.
1. Aus dem Brief an Franz Xaver Kappus vom 16. Juli 1903
Sie sind so jung, so vor allem Anfang,
und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr,
Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen
und zu versuchen,
die Fragen selbst liebzuhaben
wie verschlossene Stuben und wie Bücher,
die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.
Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten,
die Ihnen nicht gegeben werden können,
weil Sie sie nicht leben könnten.
Und es handelt sich darum, alles zu leben.
Leben Sie jetzt die Fragen.
Vielleicht leben Sie dann allmählich,
ohne es zu merken,
eines fernen Tages
in die Antwort hinein.
aus: Rainer Maria Rilke: Briefe an einen jungen Dichter. Es handelt sich dabei um Franz Xaver Kappus, der mit der Entscheidung rang, wohin seine Lebenslaufbahn führen solle: Schriftsteller oder Offizierskarriere.
Hier findet sich der komplette Brief.
2. Aus dem Brief an Franz Xaver Kappus vom 4. November 1904
Es nützt vielleicht nichts, dass ich nun auf Ihre einzelnen Worte eingehe; denn was ich über Ihre Neigung zum Zweifel sagen könnte oder über Ihr Unvermögen, das äußere und innere Leben in Einklang zu bringen, oder über alles, was Sie sonst bedrängt -: es ist immer das, was ich schon gesagt habe: immer der Wunsch, Sie möchten Geduld genug in sich finden, zu ertragen, und Einfalt genug, zu glauben; Sie möchten mehr und mehr Vertrauen gewinnen zu dem, was schwer ist, und zu Ihrer Einsamkeit unter den anderen. Und im Übrigen lassen Sie sich das Leben geschehen. Glauben Sie mir: das Leben hat recht, auf alle Fälle.
Furuborg, Jonsered, in Schweden am 4. November 1904
Hier findet sich der komplette Brief.
3. Aus "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge", Kapitel 14
Und es genügt auch noch nicht, dass man Erinnerungen hat. Man muss sie vergessen können, wenn es viele sind, und man muss die große Geduld haben, zu warten, dass sie wiederkommen. Denn die Erinnerungen selbst es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, dass in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht.
Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Kapitel 14
Man muss den Dingen die eigene, stille, ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt und durch nichts gedrängt und beschleunigt werden kann;
alles ist austragen und gebären…
Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte.
Er kommt doch!
Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,
so sorglos still und weit.
Man muß Geduld haben
gegen das Ungelöste im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antwort hinein.
Rainer Maria Rilke
4. Alternative Perspektive auf das Thema Geduld
In der modernen Welt, die auf Geschwindigkeit und Effizienz ausgelegt ist, kann die Tugend der Geduld manchmal als Hindernis betrachtet werden. Während viele die Geduld als eine notwendige Eigenschaft für tiefgründiges Denken und künstlerisches Schaffen ansehen, gibt es auch kritische Stimmen, die argumentieren, dass übermäßige Geduld in einer schnelllebigen Ära zu verpassten Chancen und mangelnder Wettbewerbsfähigkeit führen kann. Diese kontroverse Meinung hebt hervor, dass in bestimmten Berufsfeldern oder Lebenssituationen eine schnelle Entscheidungsfindung und Handlungsfähigkeit überlebenswichtig sein können.
Drei mögliche Nachteile von zu viel Geduld:
- Verpasste Gelegenheiten: In einer Welt, in der Geschwindigkeit oft als entscheidender Vorteil gilt, können zu zögerliche Individuen hinter ihren entschlosseneren Konkurrenten zurückbleiben.
- Wahrnehmung von Passivität: Übermäßige Geduld kann manchmal als Mangel an Initiative oder als Unfähigkeit, proaktiv zu handeln, missverstanden werden, was besonders in Führungsrollen zu Problemen führen kann.
- Psychologische Belastung: Ständiges Gedulden und Abwarten auf das "richtige Timing" kann zu Stress und Unsicherheit führen, besonders wenn die Ergebnisse nicht den Erwartungen entsprechen.
5. Umfrage: Wie stehst du zur Geduld?
Wie siehst du die Rolle der Geduld in der heutigen Schnelllebigkeit?
6. Geduld im Lichte der Worte: Rilke und seine Zeitgenossen
Die Welt der Literatur um die Wende des 20. Jahrhunderts war eine Bühne des tiefgreifenden Wandels, sowohl in thematischer als auch in stilistischer Hinsicht. Geduld, ein zentrales Motiv in Rainer Maria Rilkes Werken, bietet einen faszinierenden Einblick in die Seele des Dichters und seine Unterschiede zu anderen literarischen Größen seiner Zeit. Dieses Kapitel zielt darauf ab, die Nuancen von Rilkes Geduld zu beleuchten und diese mit den Ansichten seiner Zeitgenossen zu vergleichen.
Rilkes Geduld: Ein inneres Wachstum
Rilke sah Geduld nicht nur als Tugend, sondern als essenziellen Bestandteil des kreativen Prozesses und der persönlichen Entwicklung. In seinen "Briefen an einen jungen Dichter" betont er, dass Geduld notwendig ist, um die tiefen Schichten des Selbst und der Kunst zu erforschen. Rilke glaubte, dass wahre Kunst Zeit benötigt – Zeit, die es dem Künstler ermöglicht, sich vollständig und ohne Eile in das Schaffen zu vertiefen.
Die ungeduldige Moderne: Ein Kontrast
Im Vergleich zu Rilke waren viele seiner Zeitgenossen, darunter Dichter wie Ezra Pound und T.S. Eliot, Vertreter der modernen Strömungen, die eine eher kritische Haltung gegenüber traditionellen Werten wie Geduld einnahmen. Pounds "Make it new!" war ein Ruf nach sofortiger Erneuerung und oft eine Abkehr von der bedächtigen Reflexion, die Rilke so schätzte. Eliot, obwohl in mancher Hinsicht komplex und zurückgezogen, nutzte die Fragmentierung und den raschen Wechsel als Stilmittel, um die Zerrissenheit der modernen Welt zu reflektieren.
Dialog der Dichter: Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Trotz der Unterschiede gab es auch Berührungspunkte. Sowohl Rilke als auch seine Zeitgenossen suchten nach Wahrheit und Tiefe in ihren Werken. Während Rilke die stille Beobachtung bevorzugte, suchten andere Dichter wie Virginia Woolf in der stream-of-consciousness Technik nach einem direkten Zugang zum inneren Erleben. Woolfs Arbeiten, obwohl oft hektisch im Ton, zeigen eine tiefe Geduld beim Entblößen der menschlichen Psyche.
Praktische Anwendungen: Geduld in der modernen Welt
Die Betrachtung von Geduld durch Rilkes Augen bietet auch heute noch wertvolle Einsichten. In einer Welt, die von Schnelllebigkeit und sofortiger Befriedigung geprägt ist, erinnert Rilkes Ansatz daran, dass einige der wertvollsten Einsichten und Kreationen Zeit benötigen. Seine Gedanken zur Geduld sind nicht nur für Künstler von Bedeutung, sondern für jeden, der in einem Bereich tiefgehende Ergebnisse erzielen möchte.
7. Ergänzungen und Fragen von Leser:innen
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