Geschichte: Der naseweise Spatz
An einem feuchten Wintertag beäugte ein Spatz aus seinem trockenen Nest heraus, wie ihm ein Gorilla missmutig im kalten Regen auf dem Ast gegenüber saß. In bestem Bestreben gab er dem Gorilla einen Rat. Hätte er mal besser geschwiegen ...

Spatzen bauen ihr Nest mit besonderer Sorgfalt, so dass es tagelangen Regen unbeschadet und wetterfest übersteht. Sie formen es wie eine Kugel mit seitlichem Eingang, manchmal bis zur Größe eines Fußballs. Innen ist es mit feinen Geäst und Federn ausgekleidet.
Der Spatz konnte nun also den elendigen Anblick des Gorillas nicht länger mit anschauen und fiepte: "Gorilla! Du bist doch ein Vorfahre des Menschen und besitzt geschickte Hände zum Greifen. Warum baust du dir keine Hütte gegen das widrige Wetter, so wie ich es mit meinem Nest getan habe? Schau doch, wie schön trocken und warm es bei mir ist."
Der durchnässte Gorilla war ohnehin übel gelaunt und nun kam auch noch das naseweise Kerlchen. "Dem kleinen Besserwisser werde ich eine Lektion erteilen", murmelte er und schwang sich hinüber.
"Gib jenen Rat, die um deinen Rat bitten, Klugschwätzer. Die, welche keinen Rat suchen, lass mit deinen klugen Sprüchen in Ruhe."
Sagte es und fegte mit einem Stoß das Spatzennest vom Ast, so dass es am Boden zerbarst.
Quelle unbekannt, nacherzählt von Peter Bödeker
Die Geschichte im Kontext
Interpretation und moralische Einordnung
Die Geschichte lehnt sich an klassische Fabeln an, in denen Tiere menschliche Eigenschaften tragen, um eine moralische Lehre zu vermitteln. Hier geht es nicht nur um Wetter und Nestbau, sondern um Selbstüberschätzung, um ungefragte Ratschläge – und um das, was passiert, wenn Klugheit mit Überheblichkeit verwechselt wird. Der Spatz ist nicht klug, weil er ein gutes Nest baut. Er ist naseweis, weil er glaubt, seine Lösung sei allgemeingültig.
Die Fabel warnt davor, ungefragt mit Ratschlägen um sich zu werfen. Und sie stellt die Frage: Wessen Perspektive zählt? Die des Bauenden oder die des Sitzenden? Die der Selbsthilfe oder der Geduld?
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Antwort 1
Das ist nur ein guter Ratschlag vom Spatz.
Weitere Aspekte der Geschichte
Über den Bau von Spatzennestern
Der Text streift es bereits: Spatzen bauen ihre Nester mit überraschender Raffinesse. Die Kugelform schützt vor Regen, Wind und Fressfeinden. Innen sorgen weiche Materialien für Temperaturregulation. Was so niedlich wirkt, ist in Wahrheit ein kleines Wunderwerk der Tierarchitektur – und auch ein Symbol für das, was der Spatz für klug hält: vorsorgen, bauen, sichern. Dass dies nicht für jeden gilt oder möglich ist, blendet der Spatz in seiner Selbstgewissheit aus.
Tierische Symbolik
Der Spatz steht traditionell für Gewitztheit, Unterschätzung und Anpassungsfähigkeit. Klein, aber laut. Schnell, aber nicht bedrohlich. Der Gorilla dagegen: mächtig, träge, durchdrungen von Würde – und manchmal eben auch schlecht gelaunt. Ihre Begegnung ist ein Clash der Temperamente. Es ist auch ein Machtspiel: Der Kleine mit der großen Klappe, der Große mit dem langen Geduldsfaden – bis er reißt.
Symbolik des Nestes
Das Nest ist mehr als nur ein Unterschlupf. Es steht für Selbstgenügsamkeit, für das, was man sich mühsam erarbeitet hat – aber auch für den Rückzugsort des Ego. Der Spatz sitzt trocken und sicher, und das macht ihn überheblich. Die Geschichte zeigt: Sich auf dem eigenen Erfolg auszuruhen, kann gefährlich werden – besonders, wenn man von oben herab mit Steinen wirft, oder hier: mit spitzen Kommentaren.
Psychologischer Blick: Projektion und Frust
Der Gorilla ist nass, unzufrieden, kalt. Der Spatz hingegen fühlt sich überlegen. Beide tragen ihren inneren Zustand nach außen – der eine mit Frust, der andere mit Hochmut. In dieser Dynamik spiegeln sich typische Kommunikationsfallen: Missstimmungen, ungebetene Ratschläge, und das Bedürfnis, sich selbst besser zu fühlen, indem man andere belehrt.
Gesellschaftlicher Bezug
Man kann die Szene auch als Parabel auf zwischenmenschliche Dynamiken lesen: Gutgemeinte Hinweise von oben herab, übergriffige Beratungsversuche, der Frust derer, die sich belehrt statt gesehen fühlen. Die Geschichte spricht in stiller Klarheit über Alltagsarroganz – und darüber, wie schnell ein gut gemeinter Satz zur Zumutung wird.
Gesellschaftskritische Lesart
Eine moderne Deutung könnte in der Geschichte eine Parabel auf Klassenunterschiede oder Bildungsdünkel sehen. Der Spatz als Symbol für jene, die sich mit ihrem Wissen absichern, die aus sicherer Position heraus urteilen. Der Gorilla als Figur, die nicht nur vom Regen, sondern auch vom System im Stich gelassen wurde. Und dann kommt der Spruch von oben: "Mach's doch wie ich." Es ist diese Mischung aus Ignoranz und Arroganz, die eskaliert – und dabei kein seltenes Muster beschreibt.
Sprachliche Beobachtungen
Der Ausdruck „naseweis“ ist ein altes Wort, inzwischen selten im Alltagsgebrauch. Es trägt eine gewisse Liebenswürdigkeit in sich – ein Kind, das zu viel fragt, ist eben „naseweis“. Doch bei Erwachsenen schlägt der Begriff um: Er steht für Arroganz, für eine unangenehme Mischung aus Klugheit und Selbstüberschätzung. Das macht ihn hier so treffend. Der Spatz ist nicht einfach ein Kluger – er ist ein „Besserwisser mit Wetterfestigkeitsbeweis“.
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Nur, wenn ich mich wirklich auskenne | 4 Stimmen |
So gut wie nie | 4 Stimmen |
Immer – Ratschläge sind kostenlos! | 1 Stimme |
Ironie des Ausgangs
Dass ausgerechnet der Spatz, der sich seiner Stabilität rühmt, vom Ast gefegt wird, ist von leiser Ironie. Das Nest, Symbol seines Stolzes, wird am Ende zerstört. Der kluge Rat bringt ihm keinen Dank, sondern den Untergang – ein Echo auf viele gute Absichten, die in der Realität scheitern. Manchmal ist Schweigen eben doch Gold. Oder zumindest federleichter.
Didaktischer Nutzen: Für Unterricht und Diskussion
Die Geschichte bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für Diskussionen:
– Was bedeutet "Weisheit"?
– Warum ist der Ton eines Rates ebenso wichtig wie sein Inhalt?
– Wann hilft Ratschlag, wann schadet er?
– Wer hat in der Geschichte eigentlich Recht – wenn überhaupt jemand?
Solche Fragen öffnen den Text, lassen ihn über die Tierfiguren hinaus wachsen und machen ihn anschlussfähig für ethische und gesellschaftliche Themen.
Interessante oder humorvolle Fakten zum Thema
- Spatzen bauen kugelförmige Nester mit seitlichem Eingang, die Wind und Regen erstaunlich gut abhalten – ein bautechnisches Meisterwerk im Miniaturformat.
- Gorillas bauen jeden Abend ein neues Schlafnest, meistens aus Blättern und Ästen – Nestbau liegt also auch ihnen, nur anders.
- In alten Fabeln wie bei Aesop kommen Spatzen oft als schlaue, aber vorlaute Tiere vor – sie stehen damit seit Jahrhunderten für übertriebene Selbstsicherheit.
- Die Redewendung „Der Klügere gibt nach“ ist in dieser Geschichte fraglich – der Gorilla ist sicher nicht der Klügere, aber sehr wohl der Stärkere.
- Kommunikationsforscher warnen vor ungefragten Ratschlägen, da sie als verdeckte Kritik wahrgenommen werden – genau wie im Fall des Spatzen.
- Fabeln sind eine der ältesten Literaturformen, ursprünglich mündlich überliefert, mit dem Ziel, moralische Prinzipien auf unterhaltsame Weise weiterzugeben.
- Humorvolle Lesart: Der Spatz ist nicht nur ein Klugscheißer, sondern auch ein Nest-Influencer – „Schaut her, wie schön ich’s hab!“.
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