Khalil Gibran: Der Prophet – "Von der Selbsterkenntnis"
Und ein Mann sagte: Sprich uns von der Selbsterkenntnis.
Und er antwortete und sagte: Eure Herzen kennen im Stillen die Geheimnisse der Tage und Nächte. Aber eure Ohren dürsten nach den Klängen des Wissens in euren Herzen. Ihr wollt in Worten wissen, was ihr in Gedanken immer gewusst habt. Ihr wollt mit den Händen den nackten Körper eurer Träume berühren. Und das ist gut so.
Die verborgene Quelle eurer Seele muss unbedingt emporsteigen und murmelnd zum Meer fließen, und der Schatz eurer unendlichen Tiefen möchte euren Augen offenbart werden. Aber wiegt den unbekannten Schatz nicht mit Waagschalen. Und erforscht die Tiefen eures Wissens nicht mit Messstock oder Senkschnur.
Denn das Ich ist ein Meer, grenzenlos und unermesslich. Sagt nicht: "Ich habe den Pfad der Seele gefunden." Sagt lieber: "Ich habe die Seele auf meinem Pfad wandelnd getroffen." Denn die Seele wandelt auf allen Pfaden.
Die Seele wandelt nicht auf einer Linie, noch wächst sie wie ein Schilfrohr. Die Seele entfaltet sich wie eine Lotosblume mit zahllosen Blättern.
Selbsterkenntnis nach Gibran: Schlüsselgedanken aus „Der Prophet“
Wenn Khalil Gibran über Selbsterkenntnis schreibt, tut er das nicht als Philosoph mit Lehrbuch, sondern als Poet, der uns mitten in das Meer unseres eigenen Seins führt. In „Von der Selbsterkenntnis“ aus Der Prophet spricht er von einer Wahrheit, die wir seiner Meinung nach längst in uns tragen – einer Wahrheit, die im Stillen wohnt und nur darauf wartet, dass wir endlich zuhören.
Doch Gibran warnt auch: Selbsterkenntnis ist kein Ziel, das man mit Messstab oder Waage erreicht. Sie ist ein Meer, grenzenlos und unermesslich. Ein Ozean, der uns einlädt, zu schwimmen, nicht zu zählen.
Die Sprache der Bilder – was Gibran uns zeigt
„Eure Herzen kennen im Stillen die Geheimnisse der Tage und Nächte.“
Gibran erinnert uns daran, dass unser tiefstes Wissen nicht in Büchern steht, sondern in der stillen Wahrnehmung unserer eigenen Erfahrung.
Er fordert uns auf, das Unsichtbare nicht zu vermessen. Wir sollen es nicht wiegen, nicht vergleichen. Denn das „Ich“ ist ein Meer – und wer versucht, ein Meer mit einer Messlatte zu fassen, wird es verfehlen.
Seine Metaphern haben ihre eigene Schönheit: Die Seele, die sich entfaltet wie eine Lotosblume mit zahllosen Blättern. Sie wächst nicht geradeaus, sondern in Schichten, mit Rückschlägen, mit Licht und Dunkelheit. So spricht Gibran von einer inneren Bewegung, die sich nicht zwingen lässt, sondern blüht, wenn man sie lässt.
Von Stille und Sprache
Gibran zeichnet einen Gegensatz: Unsere Herzen wissen, unsere Ohren aber dürsten nach Klang. Wir sehnen uns nach Worten, nach greifbarer Erkenntnis – doch das, was wir suchen, wohnt längst im Schweigen.
Das ist die Einladung: Erlaube dir, zu lauschen, bevor du sprichst. Stille ist nicht Leere, sie ist Raum für Tiefe.
Die Seele auf dem Weg treffen
„Sagt nicht: Ich habe den Pfad der Seele gefunden. Sagt lieber: Ich habe die Seele auf meinem Pfad wandelnd getroffen.“
In dieser Zeile liegt eine entscheidende Aussage: Selbsterkenntnis ist kein Wegweiser, den jemand anders aufstellt. Sie entsteht, wenn du dich bewegst, wenn du deinen eigenen Pfad gehst – mit offenen Augen. Die Seele begegnet dir unterwegs, nicht am Ziel. Du musst den Pfad also selber finden, es gibt keine Navigation zum Pfad deiner Seele.
Wandel statt Ziel
Gibran zerlegt auch die Idee, dass Entwicklung linear ist. „Die Seele wandelt nicht auf einer Linie, noch wächst sie wie ein Schilfrohr.“
Ein Schilfrohr wächst hauptsächlich über ein unterirdisches Wurzelsystem, die sogenannten Rhizome, durch die es sich ausbreitet. Zusätzlich verbreitet es sich auch über Samen, die vom Wind verbreitet werden. Aus den Rhizomen wachsen aufrechte, beblätterte Stängel, und neue Sprossen entstehen ganzjährig aus den Knospen an den Ausläufern.
Mit diesem Vergleich bricht Gibran mit dem kontinuierlichen Fortschrittsdenken – Persönlichkeitsentwicklung ist keine Checkliste. Es gibt kein „fertig erkanntes Ich“. Wir falten uns Schicht für Schicht auf, wie eine Lotosblume.
Welche Aussage aus Gibrans Text spricht dich am meisten an?
Was wir daraus lernen können
- Selbsterkenntnis ist kein Endpunkt.
Du wirst dich nicht „finden“, sondern immer wieder neu entdecken. Das ist kein Mangel – das ist Leben. - Messe dich nicht.
Wer seinen inneren Schatz wiegen will, verliert ihn. Gibran ruft dazu auf, nicht zu vergleichen, sondern wahrzunehmen. - Vertraue der Stille.
Erkenntnis beginnt nicht mit einem Satz, sondern mit einem Atemzug. Schweigen kann Wissen hervorbringen, das Worte nur stören. - Erlaube Umwege.
Rückschläge, Zweifel, Neuausrichtungen sind keine Irrtümer – sie sind Teil des Weges. - Begegne deiner Seele, statt sie zu suchen.
Es gibt nicht den einen spirituellen Pfad. Es gibt deinen Weg, und auf diesem triffst du, was du suchst. - Erkenne das Meer in dir.
Du bist nicht begrenzt durch deine Biografie oder dein Wissen. Du bist tief, weit, wandelbar.
Was nimmst du für deine Selbsterkenntnis aus den Worten Gibrans mit?
Impulse für den Alltag
- Nimm dir täglich zwei Minuten, um nichts zu tun. Lausche deinem Atem.
- Beobachte, wann du dich vergleichst – und frage dich: Wem will ich etwas beweisen? Will ich das immer so weiter machen?
- Schreibe dir auf, was du heute gespürt, aber nicht in Worte fassen konntest.
- Lies Gibrans Passage einmal laut. Nicht, um sie zu verstehen – sondern um sie zu hören.
Kahlil Gibran und sein Hauptwerk
Khalil Gibran im Alter von 15 (1898)
Khalil Gibran (* 6. Januar 1883, † 10. April 1931) war ein libanesisch-amerikanischer Maler, Philosoph und Dichter. Die zentralen Motive seines philosophischen Denkens und seiner Schriften kreisen um das Leben, die Liebe und den Tod. Diese seien das Wesentliche für uns Menschen.
"Der Prophet" ist das bekannteste Werk Gibrans. Es wurde 1923 vom New Yorker Verlag Knopf veröffentlicht und weltweit millionenfach verkauft. Der Autor hat nach eigenen Angaben 25 Jahre an dem Buch gearbeitet.
Seltene und überraschende Fakten über Gibran und seinen Text
- Gibran schrieb „Der Prophet“ auf Englisch. Viele halten ihn für einen arabischen Mystiker – tatsächlich war Englisch seine Ausdruckssprache.
- Das Buch wurde in über 100 Sprachen übersetzt. Damit gehört es zu den meistübersetzten Werken der Weltliteratur.
- Der Lotus als Symbol: Gibran greift hier eine östliche Tradition auf – die Blume, die aus dem Schlamm wächst, steht für Reinheit und Erwachen.
- Ungewöhnlich körperlich: Die Zeile „Ihr wollt den nackten Körper eurer Träume berühren“ verbindet Spiritualität mit Sinnlichkeit – damals fast provokant.
- Dichter und Maler zugleich: Gibran illustrierte seine Bücher selbst. Seine Zeichnungen atmen denselben Geist wie seine Texte: fließend, entrückt, klar.
- Philosophie der Demut: „Sagt nicht: Ich habe den Pfad der Seele gefunden“ – dieser Satz wird heute in Coaching- und Achtsamkeitstraining häufig zitiert.
- Kultstatus der 1960er-Jahre: Die Hippie-Bewegung entdeckte Gibran neu – „Der Prophet“ wurde zu einer Art stiller Bibel der Selbstsuche.
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Deine Kinder sind nicht Deine Kinder
Deine Kinder sind nicht Deine Kinder | Text vom Gedicht | Interpretation | Khalil Gibran
Khalil Gibran (gesprochen: chaliyl dschibraan, * 1883, † 1931) war ein libanesisch-amerikanischer Maler, Philosoph und Dichter.
In seiner Dichtung und seinem philosophischen Schaffen beschäftigte er sich mit den universellen menschlichen Themen. Leben, Liebe und Tod sind seiner Meinung nach die wichtigsten Themen, mit denen sich jeder, unabhängig von Religion und Region, beschäftigen sollte. Hier ein interessanter Gedanke zum Thema "Kinder"!
Deine Kinder sind nicht Deine Kinder,
sie sind die Söhne und Töchter
der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst.
Sie kommen durch Dich, aber nicht von Dir,
obwohl sie bei Dir sind, gehören sie Dir nicht.
Du kannst ihnen Deine Liebe geben, aber nicht
Deine Gedanken; denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Du kannst ihrem Körper ein Heim geben,
aber nicht ihrer Seele, denn ihre Seele wohnt im
Haus von morgen, das Du nicht besuchen kannst,
nicht einmal in Deinen Träumen.
Du kannst versuchen, ihnen gleich zu sein,
aber nicht, sie Dir gleich zu machen,
denn das Leben geht nicht rückwärts
und verweilt nicht beim Gestern.
Du bist der Bogen, von dem Deine Kinder
als lebende Pfeile ausgeschickt werden.
Lass Deine Bogenrundung in der Hand
des Schützen Freude bedeuten!
Hier weiterlesen: Deine Kinder sind nicht Deine Kinder
Khalil Gibran: Der Prophet - "Von der Arbeit"
Khalil Gibran: Der Prophet - "Von der Arbeit"
"Der Prophet" ist das bekannteste Werk Gibrans. Es wurde 1923 vom New Yorker Verlag Knopf veröffentlicht und weltweit millionenfach verkauft. Der Autor hat nach eigenen Angaben 25 Jahre an dem Buch gearbeitet. Aus dem Buch:
Dann sagte ein Pflüger: "Sprich zu uns von der Arbeit."
Und er [der Prophet Almustafa, der 12 Jahre auf sein Schiff gewartet hat, das ihn jetzt endlich in seine Heimat zurückbringen soll. Vor seiner Abreise bitten ihn einzelne Einwohner der Stadt Orphalese, ihnen ein letztes Mal seine Einsichten zu einem bestimmten Thema zu erläutern] antwortete:
Ihr arbeitet dafür, dass ihr Schritt halten mögt mit der Erde und der Seele der Erde.
Denn untätig zu sein bedeutet, dass einem die Jahreszeiten fremd werden und man aus der Prozession des Lebens heraustritt, die in Majestät und stolzer Unterordnung in das Unendliche marschiert.
Wenn ihr arbeitet, seid ihr wie eine Flöte, durch deren Herz das Flüstern der Stunden zur Musik wird.
Hier weiterlesen: Khalil Gibran: Der Prophet - "Von der Arbeit"

Dann sagte ein reicher Mann: "Sprich zu uns über das Geben."
Und er [der Prophet Almustafa, der 12 Jahre auf sein Schiff gewartet hatte, das ihn jetzt endlich in seine Heimat zurückbringen sollte. Vor seiner Abreise baten ihn einzelne Einwohner der Stadt Orphalese, ihnen ein letztes Mal seine Einsichten zu einem bestimmten Thema zu erläutern] sprach:
Ihr gebt nur wenig, wenn ihr von euren Besitztümern abgebt.
Hier weiterlesen: Khalil Gibran "Vom Geben"
Khalil Gibran über große Menschen | Zitat
Khalil Gibran über große Menschen | Bedeutung des Zitats und Wissenswertes
„Ein wahrhaft großer Mensch ist der, der niemanden beherrscht und der von niemandem beherrscht wird.“
Khalil Gibran (1883 - 1931), libanesisch-amerikanischer Maler, Philosoph und Dichter
Hier weiterlesen: Khalil Gibran über große Menschen | Zitat
Audios zu "Khalil Gibran"
Hörbuch: Der Prophet von Khalil Gibran | Hörbuch Komplett | Deutsch
Länge: 1:17 Stunden
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Persönliche Werte kennen und für sich definieren
Persönliche Werte – die Liste der 120 Werte und warum du deine Werte definieren solltest
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Was sind deine Werte? Warum fördern sie das Selbstbewusstsein und welche Vorteile haben Werte noch? Wir laden dich zu einer kurzen, einfachen Übung ein. Nutze die Anleitung in drei Schritten, um deine persönlichen Werte zu definieren.
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Zeitfresser: die Top 16 Zeiträuber und wie du sie loswirst
Es gibt eine Menge Zeitfresser der Neuzeit, die uns Energie und Zeit rauben. Im Büro und privat. Teils liefern die Arbeitsumstände eine Erklärung und teils unsere Glaubenssätze, aber auch fehlende Ziele. Wie dem auch sei – betroffen sind letztendlich wir.
Das lässt sich ändern, vor allem im Job. Wir nennen altbekannte und neue – manchmal noch gar nicht als solche gebrandmarkte – Zeitfresser der Gegenwart und zeigen jeweils einen Vorschlag bzw. Strategien zu deren Bändigung auf.
Hole dir deine Zeit zurück!
Je nach den eigenen Möglichkeiten zu delegieren, den Arbeitsplatz zu organisieren, offen mit Bekannten und Kollegen zu kommunizieren etc., wird es Abhilfe und Antworten für das jeweilige Zeitfresser-Problem geben.
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Bedürfnisse herausfinden – Was will ich wirklich? So findest du es heraus
Wir Menschen ähneln uns in unseren Bedürfnissen und unterscheiden uns in unseren Wünschen. Wenn wir die Bedürfnisse hinter den Wünschen erkennen, öffnen sich uns eine Vielzahl von Alternativen, die Bedürfnisse zu befriedigen. Lies hier zunächst eine kurze Einführung in die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse und nutze dann die Übung (auch als Download), um deine Bedürfnisse aufzudecken.
Eine erkenntnisreiche und spannende Übung erwartet dich.
Mit dieser Übung findest du deine Bedürfnisse heraus ► Beispiele für Bedürfnisse ► Prüfung der eigenen Bedürfnisse ► Übung als kostenfreier PDF und Word-Download ► Videos und Werkzeugempfehlung
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Was sind meine Glaubenssätze? Erkennen und verändern in 3 Schritten
Glaubenssätze sind Annahmen über uns und darüber, wie die Welt um uns herum abläuft. Sie leiten uns an, wie wir uns am besten in der Welt "bewegen". Wer sein Leben selbstbestimmter, erfolgreicher und glücklicher führen möchte, der hat häufig bei seinen Glaubenssätze einen guten Ansatzpunkt.
Wenn wir das nicht tun, kann es sein, dass wir Marionetten unserer Erziehung sind und nicht zuletzt wie Orientierungslose den Einflüsterungen der Werbung folgen. Das sollten wir nicht zulassen. Lies hier, was du tun kannst, um deine Glaubenssätze zu erkennen und sinnvoll für deinen weiteren Lebensweg anzupassen. Schleppe nicht unnötiges Gepäck mit dir herum, das zieht nur herunter und bremst dich.
Hier weiterlesen: Was sind meine Glaubenssätze?
Helfersyndrom – Was tun? Tipps, Ursachen, Maßnahmen und Selbsttest
Du kennst sicher den Witz mit der älteren Dame, die am Straßenrand steht. Ein junger Mann kommt des Weges und hakt sich bei der Dame unter und begleitet sie über die Straße. Doch die Dame wehrt sich und zwar immer vehementer. Auf der anderen Straßenseite angekommen, geht der junge Mann seines Weges.
Eine andere Dame, die das Ganze beobachtet hat, fragt die ältere Frau: "Warum sind Sie denn so störrisch und undankbar zu dem jungen Mann gewesen? Er wollte Ihnen doch nur über die Straße helfen."
Darauf die ältere Dame: "Ich wollte aber gar nicht über die Straße."
Hilfsbereitschaft ist wichtig und wertvoll. Wenn der Wunsch zu helfen jedoch zu dominierend wird, dann wird es problematisch und das Resultat ist für die Betroffenen nicht immer komisch. Lese hier über das Helfersyndrom, seine Ursachen und Möglichkeiten, etwas dagegen zu tun. Nutze auch den Selbsttest.
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