Geschichte
Miss Rose und die Frage nach Zeit oder Geld
Miss Rose, die unsterbliche Katze, lebte einst bei einem Psychiater mit Namen Eric in Düsseldorf. Sie durfte dort während der Patientensitzungen in einem Körbchen unter der Heizung liegen.
Eines Tages behandelte Eric einen Bankdirektor, der viele Tränen in seiner ersten Sitzung vergoss. Zu spät erkannt, zu lange das Gute achtlos weggeworfen – und nie mehr gutzumachen. In der zitternden Hand hielt er ein verblichenes Bild, auf dem er mit seinem Vater Hand in Hand in den Sonnenuntergang ging.
Seine Geschichte lautete wie folgt: ...

In einer kleinen Stadt im Ruhrgebiet wurde vor einigen Jahren ein prachtvoller Junge geboren. Der Vater arbeitete am Schalter in einer Bank, seine Mutter halbtags an der Rezeption des örtlichen Hotels.
Die Jugend des Jungen verlief voller Glück. Immer, wenn er von der Schule heimkam, wartete seine Mutter mit Essen auf ihn. Punkt 16 Uhr erschien sein Vater von der Arbeit. Der Rest des Tages war gemeinsames Spielen, Musizieren oder Ausflügen von Mutter, Vater und Sohn gewidmet.
Jeden Abend dachte sich Papa eine neue Geschichte aus und erzählte sie dem Sohn kuschelnd im Bett. So ging es viele Jahre lang.
Die Familie lebte in einer wohlhabenden Gegend. Als der Junge in die Pubertät kam, wurde ihm bewusst, dass offenkundig alle Nachbarn und Mitschüler größere Häuser, weitläufigere Grundstücke und teurere Autos besaßen. Sicher, auch seine Familie hatte alles zum Leben, sie machten sogar zweimal Urlaub im Jahr. Aber alles halt ein oder zwei Nummern kleiner als scheinbar alle anderen um sie herum.
Je länger er darüber nachdachte, umso klarer wurde ihm, dass Vater und Mutter wohl beruflich völlig versagt hatten. Die Eltern seiner Freunde hatten augenscheinlich wesentlich mehr aus ihrem Leben gemacht.
Ab diesem Zeitpunkt veränderte sich das Zusammenleben in der Familie. Der Sohn nutzte jede Gelegenheit für Widerworte, beteiligte sich nicht mehr an den Haushaltsarbeiten, zweifelte darüber hinaus jede Aussage seiner Eltern an und verbrachte kaum noch Zeit daheim.
Er versuchte fortan alles, seine vermeintlich ärmliche Herkunft vor seinen Freunden und Freundinnen zu verbergen. Seinen "Alten" gegenüber war er nur noch mürrisch und ablehnend. Wie hatten sie nur solche Loser werden können?
Nach einem heftigen Streit zog der Junge, kaum volljährig geworden, in eine eigene Wohnung. Er verließ das Elternhaus mit den Worten, dass er mit solchen Verlierern in seinem Leben nichts mehr zu tun haben wolle.
Der Junge lernte eifrig in einer Bank und studierte parallel Betriebswirtschaftslehre. Die Briefe seiner Eltern ignorierte er konsequent. Sie wurden mit der Zeit seltener und hörten schließlich ganz auf. Zwei Jahre nach seinem Studienbeginn starb seine Mutter.
Nach dem Studium kletterte der Sohn die Karriereleiter rasch höher und gründete eine eigene Familie. Nachdem seine Tochter geboren wurde, meldete sich sein Vater wieder öfter bei ihm und seiner Frau. Er wollte das Kind gerne einmal sehen.
Doch in dem Sohn gärte nach wie vor noch solch eine Abneigung gegen den väterlichen Versager, dass er dessen Besuch immer wieder nach hinten verschob. Irgendwann musste er nicht mehr schieben, denn als seine Tochter gerade zu krabbeln begann, erlag sein Vater einem Herzinfarkt.
Wie es der Zufall wollte, wurde just zu diesem Zeitpunkt die Stelle des Bankdirektors in seiner Geburtsstadt frei. Genau in der Bank, bei der auch sein Vater bis zur Rente gearbeitet hatte.
Kurz überlegte er, ob ihm das zum Nachteil gereichen könnte. Sein Vater nur Schalterangestellter, nun wollte der Sohn Direktor werden? Man wird sehen. Er würde es auf einen Versuch ankommen lassen und bewarb sich.
Der junge Mann erhielt eine Einladung zum Vorstellungsgespräch. Der Personalchef begrüßte ihn mit den Worten, dass nun wohl der Sohn das nachholen würde, was der Vater nicht gewollt hatte.
"Bitte, ich verstehe nicht ganz. Mein Vater war am Schalter beschäftigt."
"Richtig. Aber auch ihm wurde einst die Stelle des Direktors der Bank angetragen. Dann aber wurden Sie geboren und ihr Vater lehnte ab. Statt Geld und Prestige wollte er lieber das Aufwachsen seines Sohnes begleiten. Das hat damals viel Eindruck in der Bank hinterlassen, besonders bei den Damen, wie Sie sich vorstellen können.
Egal", der Personalchef winkte ab und wechselte das Thema, "Sie scheinen aus anderem Holz geschnitzt zu sein, kommen wir zu Ihren Zeugnissen. Die sind ja exzellent, vor allem ..." Doch der künftige Bankdirektor hörte schon gar nicht mehr zu.
(Auf-)Geschrieben von Peter Bödeker
Gedanken zur Geschichte für deine Persönlichkeitsentwicklung
- Erkenne deine Werte – und vergleiche sie nicht automatisch mit externen Maßstäben.
Du bist nicht automatisch wertvoller, nur weil dein Umfeld größere Autos, größere Häuser oder einen spektakulären Titel hat. Wenn deine Eltern dir Zeit gaben, Geschichten erzählten und dich begleiteten, dann war das ein Wert – vielleicht sogar ein größerer als materieller Überschuss. Du darfst dir klarmachen: Meine Herkunft hat Qualität. - Überlege: Welche Logik leitet dein Handeln – Zeit oder Geld?
Wirst du angetrieben davon, möglichst rasch auf Karriere und Status zu zielen – oder danach, sinnvolle, erfüllende Zeit mit Menschen, Projekten oder dir selbst zu verbringen? Indem du beide Logiken bewusst gegenüberstellst, gewinnst du Wahlfreiheit. - Reflektiere deine Beziehung zur Herkunft – und gib ihr Raum, auch wenn du dich löst.
Es ist legitim, sich von Eltern, Herkunft, Umfeld zu unterscheiden. Aber frage dich: Verstecke ich mich vor meiner Herkunft oder nutze ich sie? Die Stimmung von „Verlierer“ gegenüber den Eltern war im Beispiel vorhanden. In deinem Fall: Welche Haltung hast du? Und willst du sie? - Karriere kann ein Mittel, nicht das Ziel sein.
Deine Bildung und dein beruflicher Aufstieg sind Werte an sich – aber wenn sie über Beziehungen, Zeit mit Familie oder innere Zufriedenheit siegen, riskierst du, etwas Wesentliches zu verlieren. Vergiss: Erfolg ist nicht nur außen messbar. - Verpasste Begegnungen sind nicht rückholbar
Wenn jemand sich wieder anbietet – wie der Vater im Beispiel – und du zögerst, kann es sein, dass später die Gelegenheit fehlt. Für dich: Wann hast du zuletzt eine Begegnung verschoben? Gibt es Menschen, denen du noch zuhören möchtest? - Das Selbstbild ist formbar – nutze es bewusst.
Du darfst dich nicht von dem Bild „ich muss größer, schneller, besser sein“ treiben lassen, sondern kannst aktiv entscheiden: „Ich bin wertvoll so wie ich bin, ich gestalte meine Definition von Erfolg.“ Das braucht Mut – aber es bringt Freiheit. - Zeit mit Menschen ist keine sekundäre Investition, sondern zentrale.
Im Beispiel lagen die mehrfachen Urlaube und das Miteinander der Eltern mit dem Sohn im Zentrum. Für dich: Wie viel Zeit investierst du bewusst – und mit welcher Qualität? Nicht nur Quantität zählt. - Lern die Balance zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Der Sohn im Bericht lebte stark in der Zukunft (Karriere, Status) und vernachlässigte die Vergangenheit (Beziehung zum Vater). Welche Beziehung pflegst du heute zu deiner Vergangenheit – und wie gestaltest du deine Zukunft? - Erfolg ohne Integrität kann hohl sein.
Der Personalchef sagte im Text: „Sie scheinen aus anderem Holz geschnitzt zu sein.“ Doch seine Holzart allein reicht nicht, um einen Menschen zu beurteilen – Form, Substanz, inneres Wesen und Beziehung zählen mit. Du darfst prüfen: Ist mein Erfolg nachhaltig? Habe ich dabei Menschlichkeit verloren oder gewonnen? - Lass Raum für Eigeninterpretation – dein Leben ist keine Kopie.
Am Ende bleibt: Du bist nicht der Sohn der Geschichte – aber du kannst aus dieser lernen. Welche Kapitel willst du anders schreiben? Gib dir selbst das Recht, eigene Antworten zu finden.
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FunFacts zum Thema
- Studien zeigen, dass Menschen mit hoher Zeit-Freiheit (also viel Entscheidungsfreiheit über ihre Zeit) nicht automatisch zufriedener sind — es kommt darauf an, was sie mit dieser Zeit machen.
- Der Psychoanalytiker Sigmund Freud sprach über die Instanzen „Es“ (Id), „Ich“ (Ego) und „Über-Ich“ (Superego) – und erklärte, dass das Ich ständig zwischen den Wunschimpulsen und moralischen Maßstäben vermitteln muss.
- In der Karrierethematik spricht man vom sogenannten „Matthew‑Effekt“ – „Wer viel hat, dem wird mehr gegeben“ –, etwa: Wer früh Vorteile hat (Netzwerk, Ressourcen), steigt hinauf.
- Eine Gegenintuition: Menschen mit vergleichsweise „kleinerem“ Umfeld (zeitlich, räumlich, finanziell) haben oft mehr Kreativität und Beweglichkeit – weil sie nicht so stark in der Status-Falle sitzen.
- Der Begriff „Karriere“ stammt etymologisch vom französischen carrière (Fahrbahn, Rennbahn) – implizit also eine lineare Richtung. Doch moderne Karriereverläufe sind oft nicht synchron mit dieser Linie, sondern vielfach netzwerk-, projekt- oder lebensorientiert.
- In psychologischen Studien zeigt sich: Wer im Jugendalter sehr stark auf Vergleich mit Gleichaltrigen fokussiert ist („Warum haben die größere Autos?“), zeigt im späteren Leben häufiger Unzufriedenheit, auch wenn objektiv Erfolg vorhanden ist.
Über Miss Rose
Miss Rose ist eine Katze, die im Jahre 4.895 vor Christus geboren wurde. Sie lebte u. a. bei Tabaka in Kapstadt, bei Eric in Düsseldorf und bei einer alten Weberin. Wenn sie jagt, wendet sie eine Yoga-Meditationstechnik an.
Die Geschichten von Miss Rose bisher
Weitere Geschichten, die Miss Rose während ihres langen Dasein erlebt hat:
- Die unsterbliche Miss Rose
- Miss Rose und die Studenten, die nicht wussten, was sie werden wollten
- Miss Rose: Der Kampf von Licht und Dunkel
- Miss Rose und der Bahai auf Reisen
- Miss Rose, die Krankenschwester und der geheimnisvolle Armreif
- Geschichte: Miss Rose und das Wesen der Menschen
- Miss Rose und das Sicherheitsritual
- Miss Rose und der Meisterautor
