Der unnötige Tod im Einmachglas
Auf meinem Schreibtisch steht ein Einmachglas, das meine Tochter im Kindergarten mit bunten Herzen beklebt hat. Stellt man ein Teelicht hinein, fächern die Herzen das Licht in bunte Streifen. Doch Sommerzeit ist keine Kerzenzeit. Damit das Glas nicht allzu sehr verstaubt, habe ich es einfach umgedreht. Allerdings hatte sich ein Bleistift unter den Rand des Glases gemogelt. Durch diesen Spalt nahm das Unheil seinen Lauf.
Ich stelle es mir so vor: Nachdem wir zum Wochenendausflug aufgebrochen waren, muss die Fliege durch den Spalt unter das Glas gekrochen sein. Es handelte sich um ein schönes Fliegenexemplar, mit großen, orangeroten Augen, die auch im Tod noch nichts von ihrer Strahlkraft verloren hatten. Nennen wir die Fliege Egon.
Irgendwann hatte Egon den Schreibtischboden unter dem Einmachglas ausreichend erkundet. Vielleicht schreckte ihn auch ein Geräusch hoch. Wie auch immer, er hob nach Fliegenart ganz normal ab. Da er sich aber noch unter dem Einmachglas befand, prallte er mit seinem Fliegenkopf oben an den Glasboden. Verwirrt landete er wieder auf dem Boden.
Mangels Einsichtsfähigkeit hob er wieder ab, diesmal mit mehr Schwung. Aber demselben Ergebnis. Wieder schlug er oben an, diesmal heftiger. Egon wollte es nicht wahrhaben. Immer wieder flog er gegen die Wände des Glases, mit jeder Wiederholung wurde er hektischer. Auch als seine Flügel schon schmerzten, verstärkte Egon seine Bemühungen weiter. Bis er nicht mehr konnte. Bis zum Tod.
Das Tragische daran: Den Ausgang hatte Egon immer in Sichtweite. Was veranlasste ihn, immer wieder denselben, erfolglosen Weg zu probieren? Warum meinte er, dass ein Verstärken seiner Bemühungen den Erfolg bringen würde? Warum hielt Egon nicht inne, um über das Problem zu reflektieren. Um sich des Auswegs zu erinnern oder um diesen aus der Ruhe am Boden zu erkennen?
Zum Glück sind wir Menschen klüger...
Albert Einstein über den Wahnsinn
„Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.“
Albert Einstein (1879 - 1955), deutsch-US-amerikanischer Physiker
Weiterlesen: Albert Einstein über den Wahnsinn
Alle Lebewesen neigen dazu, Erkenntnisse aus bestehenden Lebenserfahrungen auf neue Herausforderungen anzuwenden. Wenn ich einen Holzstamm nicht aufgehoben bekomme, kann es zum Erfolg führen, dass ich mehr Kraft anwende. Ob vermehrte Anstrengung aber auch funktioniert, wenn ich ein bestimmtes Ergebnis im Berufsleben anstrebe? Oder muss ich mich (immer) um eine Beziehung nur mehr bemühen, wenn diese auseinanderzubrechen droht?
Das Einmachglas ist überall durchsichtig. Für Egon muss die Lösung so offenkundig ausgesehen haben. Jedoch: Etwas ihm Unsichtbares verhinderte den Erfolg.
Fazit
Oftmals gilt: Wenn wir bei einer Herausforderung mit einer augenscheinlich erfolgversprechenden Vorgehensweise nicht weiterkommen, findet sich die Zielerreichung (die Lösung, der Ausgang ...) eher in einem anderen Ansatz, nicht im Verstärken der bisherigen Bemühungen.
Hätte Egon dies bedacht, würde er noch leben.
Der Beitrag ist eingeordnet unter:
- Details
- Geschrieben von Peter Bödeker
- Zuletzt aktualisiert: 20. Mai 2016
Auch interessant
Das war ein Beitrag aus der
GUTEN-MORGEN-GAZETTE
Lesefreude und spannendes Wissen seit über 20 Jahren
Möchtest du die Gazette jede Woche kostenlos erhalten?
Anregungen durch Sinngeschichten, Fabeln, Artikel ...
Wissen und Wortschatz mit Freude vergrößern
Lesespaß und Humor von Schriftstellern, Philosophen und anderen großen Denkern