
Drei Stiere und der Löwe - eine Fabel von Aesop
Es war Sommer. Die Luft roch nach trockenem Gras und warmem Staub. Drei Stiere standen dicht beieinander auf der weiten Weide. Der erste war schwarz wie eine mondlose Nacht. Der zweite weiß wie die Wolken über dem Hügel. Der dritte hatte ein Fell, das aussah wie rostiges Eisen.
Sie kannten sich seit ihrer Jugend. Sie waren stark. Jeder von ihnen konnte einen Wolf vertreiben, ohne sich auch nur zu bewegen. Zusammen waren sie unbesiegbar.
Sie fraßen in Ruhe. Sie ruhten in der Sonne. Und sie wussten: Solange sie Schulter an Schulter blieben, konnte ihnen nichts geschehen.
Am Rand der Weide, im Schatten eines riesigen Baumes, lag der Löwe. Er beobachtete sie. Seine Rippen zeichneten sich unter dem Fell ab. Der Hunger plagte ihn.
Er hatte es schon versucht. Einmal. Er war aus dem Gebüsch gesprungen, aber die Hörner der Stiere waren zu schnell gewesen. Er hatte eine Narbe an der Flanke davongetragen. Seitdem wagte er keinen direkten Angriff mehr.
Doch der Hunger blieb. Und der Hunger macht kreativ.
Der Löwe trat am Abend auf die Weide. Er kam leise. Seine Stimme war weich. Sie hatte den Klang von Wasser, das an einem heißen Tag aus einem Tonkrug rinnt.
"Schwarzer Stier", sagte der Löwe. "Der Weiße redet schlecht von dir. Er sagt, du bist langsam. Dass du nur so tust, als wärst du stark."
Der Schwarze spürte, wie ihm die Hitze in den Nacken kroch. Er glaubte es nicht. Aber er dachte darüber nach.
Am nächsten Tag ging der Löwe zum Weißen. "Der Rostfarbene plant, dich zu vertreiben", sagte er. "Er will die Weide für sich allein"
Der Weiße schnaubte. Sein Atem dampfte in der Morgenluft. Er glaubte es nicht. Aber er dachte trotzdem darüber nach.
Am dritten Tag sprach der Löwe mit dem Rostfarbenen. "Weißt du", sagte er, "die beiden anderen reden über dich. Sie lachen, wenn du dich abwendest. Sie sagen, du bist schwach."
Und so fing der Zweifel an, an den Stieren zu arbeiten.
Sie hörten auf, eng beieinander zu stehen. Sie blickten sich seltener an. Ein Hornstoß hier, ein abgewandter Blick dort. Worte wurden weniger. Die Stille nahm zu.
Eines Morgens standen sie nicht mehr zusammen. Der Schwarze weidete am Hügel. Der Weiße suchte Gras am Bach. Der Rostfarbene stand nah am Waldrand.
Und der Löwe lächelte.
Er griff zuerst den Rostfarbenen an.
Es war leicht. Ein Sprung, ein Brüllen, ein Schlag der Tatze. Kein Horn kam zur Hilfe. Kein Rücken deckte ihn. Der Rostfarbene fiel. Der Löwe fraß bis zum Sonnenuntergang.
Am nächsten Morgen war der Schwarze dran.
Er hörte das Knacken im Gebüsch, er spürte die Gefahr. Aber niemand stand bei ihm. Kein Weißer, kein Rostfarbener. Er kämpfte, er trat, er senkte die Hörner. Aber der Löwe hatte Zeit und wieder Kraft.
Der Schwarze starb.
Der Weiße blieb übrig. Er merkte erst, wie still die Weide war. Wie groß die Leere, die die beiden anderen hinterlassen hatten. Er sah die Spuren im Gras. Er roch das Blut. Und er wusste: Jetzt bin ich allein.
Am dritten Tag kam der Löwe. Der Weiße rannte, er suchte Deckung, er schrie nach Hilfe. Aber niemand antwortete. Der Löwe packte ihn. Es war schnell und endgültig.
Dann war nur noch der Löwe da. Und die Weide und der Wind.
(frei nach Aesop, neu erzählt von Michael Behn, blueprints Team)
Interpretationen
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Antwort 1
Meine Mutter bringt mich dazu, das was ich denke und fühle, auch schon früher, in Zweifel zu ziehen. Es schwächt mich.
Antwort 2
Sei dir immer bewusst, wie wertvoll Freunde sind.
Christine schreibt: Wer ist der Löwe in meinem Leben?
Ich hab mir beim Lesen echt überlegt: Wer ist mein "Löwe"? Und es sind nicht immer Leute. Manchmal ist es auch eine Stimme im Kopf, die mir sagt:
- "Die anderen mögen dich nicht mehr."
- "Die hat das bestimmt mit Absicht gesagt."
- "Vertrau niemandem."
Wenn man solchen Gedanken zu viel Raum gibt, wird man selbst zur Saboteurin des eigenen Teams. Ich hab das erlebt. Und es hat mich viel gekostet, da wieder herauszukommen.
Die Moral der Fabel war früher Teil politischer Bildung
In der Antike und im Mittelalter wurden Fabeln wie diese nicht zur Unterhaltung erzählt, sondern zur moralischen und politischen Erziehung - etwa von jungen Adeligen, Diplomaten oder sogar Generälen.
Diese Fabel diente konkret als Warnung:
- an Stadtstaaten: Lasst euch nicht gegeneinander ausspielen.
- an Soldaten: Vertraut einander.
- an Höflinge: Intrige zerstört alle.
Die Geschichte als Parabel auf unsere Zeit
Für die heutige Zeit können wir die Fabel als Warnung betrachten:
- vor Spaltung durch Fake News, Klatsch, Politik
- vor toxischer Arbeitsplatzkultur oder Mobbing
- als Metapher für Trennungen in Familien oder Freundeskreisen durch Misstrauen
Umfrage zum Thema "Freundschaft"
Was schützt eine Freundschaft am besten?
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Die bisherigen Stimmen:
Vertrauen | 8 Stimmen |
Fehler verzeihen können | 6 Stimmen |
Ehrlichkeit | 3 Stimmen |
Gemeinsame Zeit | 2 Stimmen |
Über Ängste reden zu können | 0 Stimmen |
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Ralph Waldo Emerson über Freunde | Bedeutung vom Zitat

„Die Schmuckstücke eines Hauses sind die Freunde, die darin verkehren.“
Ralph Waldo Emerson (1803 - 1882), US-amerikanischer Philosoph
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Äsop, Schedelsche Weltchronik (1493)
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