Der 50-jährige Antipasti-Händler Tobias erlitt eines schönen Frühlingsmorgens auf dem Weg zum Markt mit seinem Transporter einen schweren Unfall. Er schlug hart mit den Rippen auf das in die Fahrerkabine gedrückte Lenkrad. Die Diagnose der Ärzte: Mindestens acht Wochen strengste Bettruhe in einem Stützkorsett, das jegliches Aufrichten oder Drehen verhindert. Mit Glück würde er danach wieder gehen können.
Niedergeschlagen ließ er sich von der Schwester in ein Zwei-Bett-Zimmer schieben. Seinen Bettnachbarn an der Fensterseite, einen betagten Herrn mit ungesunder Gesichtsfarbe, grüßte er halbherzig und versank sogleich in düstere Schwermut. Apathisch starrte er auf die weiße Decke. Wie würde es mit ihm weitergehen? Würde er wieder auf dem Markt stehen können? Welche Alternativen hätte er?
Wenn er doch wenigstens eine Partnerin hätte, auf die er in dieser schweren Zeit bauen könnte. Jetzt rächte sich sein eigenbrötlerischer Lebensstil, den er seit vielen Jahren kultivierte. Hin und wieder löste sich in ihm ungewollt ein Stöhnen oder ein leises Seufzen.
Tobias war in einen dämmrigen Halbschlaf voller trüber Fantasien gefallen, als die Schwester erneut in das Krankenzimmer hereinkam. Aus den Augenwinkel nahm er wahr, wie sie den Kopfbereich des Bettes vom Alten am Fenster elektrisch hochfuhr, so dass dieser aufrecht sitzend aus dem Fenster schauen konnte. Was dieser dort sah, konnte Tobias nicht erkennen. Sein Kopf war durch das Stützkorsett in seinem Bewegungsradius fast vollständig eingeschränkt.
Nachdem die Schwester das Zimmer wieder verlassen hatte, begann der Greis, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden, zu sprechen: "Ich habe Flüssigkeit in der Lunge und werde jeden Tag für eine Stunde aufgerichtet. Das ist für mich die schönste Zeit des Tages. Möchten Sie, dass ich Ihnen schildere, was ich hier sehe?"

Tobias war es eigentlich egal. Aber der Alte schien ihm fast bedauernswerter als er selbst. So gab er mit einem knappen "gerne" sein Einverständnis.
Mit gemächlicher Stimme schilderte der betagte Herr, was er sah. Vor dem Fenster lag ein gepflegter Park mit imposanten Bäumen beträchtlichen Umfangs. "Zu viert könnten wir einige von denen nicht umfassen", staunte der Alte. In den grünen Wiesen lagen verstreut kleine Teiche und sich verspielt schlängelnde Bächlein, die alle paar Meter von fein verzierten Brücken überspannt wurden.
Tobias konnte sich anhand der enthusiastischen Schilderungen des Greisen ein plastisches Bild von der Grünanlage vor dem Krankenhaus machen.
Im Laufe der Tage kamen die Beiden immer tiefer ins Gespräch. So sich der Alte dazu in der Lage sah, erzählte er aus seinem Leben, seinen Frauen, seinen Kindern, seinen Verfehlungen und seinen Erfolgen. Auch Tobias kam immer mehr ins Plaudern und berichtete von seinem Tagesrhythmus sowie von den Schwierigkeiten und Freuden des Marktlebens. Mit der Zeit wurde ihm bewusst, wie er dem Alten mehr Einblick in sein Innerstes gewährte als irgendeinem Menschen zuvor. Nach drei Wochen redete er ohne Scheu von seiner Angst, in völliger Einsamkeit alt zu werden, der Arbeit körperlich nicht mehr gewachsen zu sein oder irgendwann festellen zu müssen, ein sinnloses Leben geführt zu haben.
Dennoch, die schönen Erlebnisse im Krankenzimmer der beiden Invaliden überwogen. Beide freuten sich jeden Tag auf die Stunde, in welcher der Alte aufgerichtet die Geschehnisse im Park verfolgen und an Tobias berichten konnte. Es war Frühlingsanfang und auf den Steinwegen schlenderten frischverliebte Pärchen. Wenn zwei an einem Tage noch mit Anstandsabstand steif nebeneinander einhergingen, so konnte der Greis Tags drauf schon kurze, scheinbar unbeabsichtigte Berührungen schildern. Eine Woche später sah er manch Pärchen dann Hand in Hand unter den Bäumen entlang schlendern.
Auch die Natur machte in dieser Zeit gewaltige Sprünge. Der Alte war ein scharfer Beobachter und bildgewaltiger Erzähler. Aus den Knospen bildeten sich im Laufe der Tage im Park ein farbenprächtiges Reich aus frischem Birkengrün, rosa Rotbuchenblüten und weißen Magnolienblüten. Tobias merkte, wie er sich zunehmend auf die Phase nach dem Stützkorsett freute. Seine Niedergeschlagenheit der ersten Tage hatte er völlig abgelegt. Was er dem Alten noch nicht erzählt hatte: Sobald er wieder einigermaßen laufen kann, wird er sich als Erstes bei einer dieser Partnervermittlungen im Internet anmelden ... oder ein Tanzkurs oder ... Wenn es doch schon so weit wäre.
Am nächsten Morgen, Tag eins von Woche acht im Stützkorsett, erwachte Tobias in ungewohnter Frühe. Er merkte sofort, dass irgendetwas anders war. Die Stille. Der Alte pflegte in der Nacht vernehmlich zu röcheln, ein Geräusch, an das sich Tobias nach einigen Tagen gewöhnt hatte. Nun fehlte es. Verzweifelt versuchte Tobias, den Kopf im Korsett zu drehen. Er sah nur aus den Augenwinkeln den Bettwulst des Alten. Keinerlei Auf und Ab war zu erkennen. Er tastete nach dem Notruf und drückte den Knopf mit aller Kraft hinein.
Es dauerte gefühlt eine Stunde, bis eine Schwester zum Zimmer hereinkam. Ohne auf ihn zu achten, stürzte sie auf das Bett des Alten zu und fingerte an ihm herum. "Was ist denn los? Wie geht es ihm?", fragte Tobias, innerlich seine Hilflosigkeit verfluchend.
"Es tut mir leid, er ist gegangen. Sein Arm ist ganz kalt."
Die darauf folgende Woche lag Tobias alleine im Zimmer. Er dachte über alles nach, was der Alte und er einander erzählt hatten.
Eines Morgens, Tag 57 nach Tobias Unfall, kam sein behandelnder Arzt zur Tür hinein und befreite ihn endlich vom Stützkorsett. Sanft fuhr die Schwester sein Kopfteil hoch, so dass auch er zum ersten Mal einen Blick aus dem Fenster werfen konnte.
Er starrte auf eine hässliche Betonwand. Konnte er seinen Augen trauen? "Wa ... wa ... was ... Schwester, ich dachte hier läge ein Park vor dem Fenster."
"Wie kommen Sie denn darauf?"
Langsam dämmerte es Tobias. Er murmelte: "Der Alte hat mir davon erzählt ..."
"Ihr verstorbener Bettnachbar? Aber der ist doch seit zwei Jahren blind ..."
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Gutes tun, ohne es jemanden wissen zu lassen
Geben macht glücklich. Selbst dann, wenn der Empfänger der Hilfe dies gar nicht mitbekommt. Aktuelle Studien zeigen, wie Akte des Guten unseren Mitmenschen gegenüber bei uns selbst Glücksgefühle im Gehirn auslösen.
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Dann sagte ein reicher Mann: "Sprich zu uns über das Geben."
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„Das Was bedenke, mehr bedenke Wie“
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„Behandle die Menschen so, als wären sie, was sie sein sollten, und du hilfst ihnen zu werden, was sie sein können.“
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Wenn dir jemand mitteilt, dir sage jemand Böses nach, dann rechtfertige dich nicht, sondern antworte: „Er kannte wohl meine anderen Fehler nicht, denn sonst würde er nicht nur diese hier erwähnen.“
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Lebenslanges Lernen - Zitat von Seneca
Lebenslanges Lernen - Zitat von Seneca
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Zitat über : Den Gegner kennen - aus dem Ehrenkodex der Samurai
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Mark Twain (1835 - 1910), amerikanischer Schriftsteller
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Siddhartha Gautama Buddha, Begründer des Buddhismus, lebte um 500 v. Chr.
John Ruskin Zitat der höchste Lohn
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